Die Villinger Vogelgedichte

Zur Zeit Ursula Haiders (1413 bis 1498) verfassten die Ordensschwestern des Villinger Bickenklosters sogenannte „Sinngedichte“ über Vögel und Fische, die vom Denken der Mystik geprägt sind. Diese Gedichte aus dem 15. Jahrhundert sollen hier nach und nach veröffentlicht werden.

Der Distel

Der Distel
Ich bin ein Distelvögelein; mein Gesang ist lieblich und fein;
Geistliche Freud‘ sollst Du im Herzen haben.
Dann wirst Du aller Arbeit leichter tragen;
Der süße Jesus ist Deine Hilf in jeder Not,
Den fröhlichen Dulder minnet Gott.

Der Grünfink

Der Grünfink (Cäcilia Bayer)
Grünfink werd ich genannt,
Bin geistlichen Kindern gar wohl bekannt;
Mein Gesang tut Dich lehren,
Zucht und Tugend täglich in Dir mehren,
Dann wirst Du grünen in der Jungfrauen Reihen,
Wie die blühende Blume im schönen Maien.

Das Blauelein (Die Blaumeise)

Das Blauelein (Juliana Bürge)
Ein Blauelein werd‘ ich genannt,
Bin ersterbenden Seelen gar wohl bekannt;
Mein Gesang will dir jehen*,
Dir selbst absterben und von dir ausgehen;
Unwert ist manchen mein Getön,
Der Seele aber nützlich und schön;
Wer ihr folget wird von Gott geehret,
Sein Lohn im Himmel einst gemehret.

(*jehen = sagen)

Der Spar (Spatz)

Der Spar (Anna Bruhi)
Ein Spar bin ich genannt, Einsamkeit ist mein Gesang.
Der Herr Jesus hat mich in Liebe umfangen,
Als er allein und trostlos am Kreuze gehangen;
Halt allzeit innig und einig Deinen Mut,
Dann wirst gelangen Du zum höchsten Gut,
Und dringen in der Ewigkeit in Gottes Heimlichkeit.

Die Eule

Die Eule (Ursula Funk)
Eine Eule bin ich genannt, meine Kinder sind mir wohl bekannt;
Mit meiner Stimm‘ möcht‘ ich Dich lehren,
Alle Dinge auf Erden zum Besten kehren,
Dann kommen sie Dir alle zu gut,
Und Du bewahrest stets den reinen freien Mut.

Das Bruströtele (Gartenrotschwanz)

Das Bruströtele (Apollonia Brugger)
Ein Bruströtele ich bin, nehm‘ alle zeitliche Sorge dahin;
Mein Gesang tut Dich lehren,
Nutzloser Sorgen Dich erwehren,
Niemals schweren Kummer fassen,
Gott wird die seinen nicht verlassen.

Der Ächer (heutiger Name unbekannt)

Der Ächer (Vronek von Nidegg)
Ein Ächer ist mein Nam‘, Verträglichkeit mein Gesang;
An dem geistlichen Kind wird gern gesehen,
Wenn es verträglich ist und sich selbst lässt untergehen;
Wer allzeit weiß den Kürzeren zu ziehen,
Erträgt mit leichtem Sinne alle Mühen.

Das Zaunschlüpflein (Der Zaunkönig)

Das Zaunschlüpflein (Elisabeth Stierli)
Zaunschlüpflein bin ich genannt, Demut ist mein Gesang;
Ich lehre das Gemüt niederbiegen
Und zu den Füßen Christi liegen;
Denn der lustbare Born göttlicher Barmherzigkeit
Fließt abwärts in das Tal der Demütigkeit.

Das Fädemli (Girlitz)

Das Fädemli (Zilge Falk)
Ich bin ein Fädemlein, mein Gesang soll Gottesfurcht sein;
Die kann Dich besser als alle Welt lehren
Die Weisheit unseres Herren;
Drum fürchte Gott und übe Tugend,
sie führet Dich zu ew’ger Jugend.

Die Taube

Die Taube (Barbara Stökli)
Ein Täublein ist mein Nam‘, Sanftmut mein Gesang;
Ohn‘ alle Galle will ich leben,
Niemanden mag ich widerstreben,
Die Sanftmut ist so hold und fein,
Sie lehret Dich ein Lehrkind Christi sein.

Der Wannenwecker (heutiger Vogelname unbekannt)

Der Wannenwecker (Klara Wittenbach)
Ein Wannenwecker bin ich, Barmherzigkeit ist mein Gesang;
Wirst Du diese wohl üben und lehren,
So wird Gott seine milden Augen zu Dir kehren,
Besonders an dem jüngsten Tag,
Wo niemand über dich klagen mag;
Der Herr wird Dich empfangen gnadenreich,
Und führen Dich in seines Vaters Reich.

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