Die Mönchzeller Kiste

Die Mönchzeller Kiste (1)

Es war nur eine alte Kiste, die da auf ebay angeboten wurde. Mit privaten Briefen, die eine Familie über mehr als hundert Jahre hinweg gesammelt hatte. Ich wollte schon wegklicken als ich sah, dass es sich um eine Kiste aus Mönchzell handelte. Wie die wohl nach New York gekommen war? Der amerikanische Händler wusste es auch nicht. Er hatte sie aus Nachlassbeständen aufgekauft. Er meinte sie stamme wohl von einem Soldaten, der in Heidelberg stationiert gewesen sei. Es seien viele alte Briefe drin. Ganz alte, also uralte, über hundert Jahre alt und alte, also neue alte, vielleicht so 50 Jahre alt.

Ich bin selber 1960 in Mönchzell geboren. Seit 1992 wohne ich nicht mehr dort, aber ich fühle mich dem Ort immer noch sehr verbunden. Also bat ich den Händler, die Kiste aus ebay herauszunehmen und mir zu verkaufen. Ich bekam sie einigermaßen günstig. Wahrscheinlich viel zu teuer. Für wieviel möchte ich nicht sagen, denn es könnte sein, dass das jemand liest, der sich darüber aufregt, wie viel ich dafür bezahlt habe. Die Versandkosten waren auch nicht ohne. Und jetzt ist sie da.

Sie lässt sich ohne Mühe öffnen. Beim Öffnen bekomme ich Gänsehaut. Schön gebündelt liegen sie da die Briefe. Sie sind immer an dieselbe Familie adressiert. An wen möchte ich nicht sagen, es könnten ja noch Nachkommen dort leben. Der Packen mit den neuesten Briefen ist mit einem Blatt versehen 1980 bis 1982. Ich hebe die Briefpäckchen nach und nach heraus, arbeite mit Stück für Stück nach unten. Alle Päckchen sind mit Jahrzehntblättern versehen. 1930, 1910, 1870, 1860. Das Päckchen ganz unten links ist das kleinste. 1859.

Ich öffne den ältesten Brief.

„Liebe Luise,

ich hoffe in Mönchzell steht alles zum Besten. Stell dir vor: Es ist so weit. Ich habe die Stellung am Heidelberger Lyceum angetreten. Wer hätte das gedacht, als wir damals zusammen an der Lobbach saßen und im Mühlwald spazieren gingen. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, als meine Mutter mit Josef und mir von Rastatt nach Mönchzell zu euch zurückzog. Die ersten zwei Jahre waren gut in Mönchzell, ohne den Vater. Da muss ich den Dänen und dem Großherzog heute noch dankbar sein, dass er ihn in den Krieg schickte und wir nach Mönchzell kamen. In den ersten drei Jahren in Mönchzell hatte ich auch ziemliche Freiheit und einige Entschädigungen für den harten Vater. Die Vorstellung von den ersten Wiesen, die ich sah, von dem Kornfeld, das sich den sanften Hügel beim Wengertspfad hinauf streckte, mischen sich immer noch mit meinen angenehmsten Gedanken. So sehe ich gerade den Neckargemünder Weg vor mir, mit seinen Büschen und Bäumen, die am Beginn desselben auf das grüne Gras ihre Schatten warfen und immer dichter und dichter wurden. Aber wie bald waren diese ersten glücklichen Mönchzeller Jahre entflohen. Es ward Friede und Vater kam zu uns. Anfangs schien alles gut. Die lange Trennung von ihm verursachte in meiner Mutter ein kurzes Blendwerk ehelicher Eintracht. Aber bald folgte auf die trügerische Windstille ein desto schrecklicherer Sturm. Aber das weißt du ja alles. Zumindest was man halt so von außen wissen kann. Lass mich im nächsten Brief darüber schreiben, was das damals mit mir machte.

Ich will von schöneren Dingen schreiben. Stell dir vor. Gestern Abend hat sich ein junger, zahmer Uhu vom Schlosse herab zu mir verflogen. Ich habe ihn eingefangen und bei dem Castellan des Schlosses abgegeben und eine kleine Belohnung erhalten.[1]

Gehen die Mönchzeller Kinder bei der Ernte wieder stupfeln? Dieser Sommer ist ja unerträglich heiß. Überall kommt es zu Bränden (Heidelberg, Schwetzingen, ganz schlimm Sandhausen) und Todesfällen wegen der großen Hitze. Hier ist das Ährensammeln nur den Armen gestattet. Morgens vor und abends nach sechs ist aber selbst ihnen das Ährensammeln bei Strafe untersagt. Die Strafe ist 1 Gulden 30 Kreuzer nach der Feldpolizeiordnung. Wer betroffen wird, dem wird die gesammelte Frucht abgenommen und überdies als Frevler mit obiger Strafe belegt. Aber die Verbote gehen noch weiter. Jedermann, der ohne Ausweis über eine bestimmte ihm erlaubte Arbeit morgens vor 4 und abends nach 9 im Feld betroffen wird, wird als Frevler bestraft.[2]

Was gibt es wieder an Neuigkeiten?  Aus Mosbach wird berichtet, dass die Vorarbeiten zur Erbauung der Odenwälder Eisenbahn, die auch bei uns noch nicht ganz beendet sind, fortgesetzt werden. Sie sollen sicherem Vernehmen nach so weit geführt werden, dass beim Eintritt ruhigerer Zeiten der Bau der Bahn sofort in Angriff genommen werden kann.  Da passt es ja, dass in Reichartshausen, am 4. Juli im dortigen Gemeindewald 290 Stamm Eichenschälholz, welches sich zu Eisenbahnschwellen, Bau- und Nutzholz eignet, versteigert werden. Die Zusammenkunft ist am Weinweg bei der Landstraße morgens um 8 Uhr. Vielleicht hat dein Bruder ja Interesse.

Die ruhigeren Zeiten brechen offenbar schon jetzt an und es wird mit der Eisenbahn vorwärts gehen. Wie man hört, haben die beiden Kaiser einen Vorfrieden geschlossen. Italien wird wohl zum ersten Mal eine Nation werden. Wann wir Deutschen? Die Österreicher müssen die Lombardei an die Italiener abtreten. Nur Venedig wird  österreichisch bleiben. Garibaldi und Napoleon haben den jungen Franz Joseph geschickt übertölpelt. Das wird die Preußen freuen. Aber ich bin froh um den Frieden. Die armen Soldaten. Die Sanitätsverhältnisse sollen über alle Maßen traurig sein. Selbst leichte Wunden haben in beiden Lagern Blutvergiftungen und Tod zur Folge; Typhus, nach andern Cholera, unter den afrikanischen Civilisationstruppen pestartige Krankheiten, raffen Hunderte dahin. Wenn ich das alles so bedenke, vergeht mir die Lust am Sonntag nach Neuenheim zur Kirchweih zu gehen. Ich werde das Geld besser für die verwundeten österreichischen Krieger spenden.

In Epfenbach wird die Gemeindeschäferei neu verpachtet. Sie darf von Michaeli den 29. September bis 25. März mit 300 Stück und vom 25. März bis Michaeli den 29. März mit 150 Schafen beschlagen werden. Sie wird auf drei Jahre Donnerstag, den 14. Juli , nachmittags um 1 Uhr im Rathaus in Epfenbach versteigert. Die auswärtigen Steigerer haben sich mit Vermögenszeugnissen auszuweisen.[3]

Vielleicht schaffe ich es ja zur Kerwe nach Mönchzell zu kommen. Die Verbindung ist gut. Vom Ritter fährt der Kutscher Gerich vier Mal täglich nach Neckargemünd. Und der Kutscher Rößler fährt ebenfalls vier Mal täglich vom Goldenen Herz nach Neckargemünd.[4]

Für unsere Briefe haben wir ja den Kaufmann Grösser, der mit seinen Fahr- und Botendiensten weiterhin für Mönchzell und die Nachbarorte zuständig bleibt.[5]

So viel für heute. Ich will dir im nächsten Brief mehr von Mutter und Vater schreiben. Mein Herz zerfloss damals in Wehmut, wenn ich einen von meinem Eltern Unrecht geben sollte. Für Euch und die Mönchzeller war das einfach. Mir schien es hingegen oft, als wenn der Vater, den ja alle fürchteten, doch mehr Recht habe, als die Mutter, die ich liebte. So schwankte meine junge Seele beständig zwischen Hass und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen zu den Eltern hin und her. Da hattest es Du mit Onkel Hans und Tante Gisela besser. Ich freu mich schon auf deinen Brief mit den Neuigkeiten aus Mönchzell.

Sei herzlich gegrüßt

Anton

(2) Liebe Luise, Heidelberg, den 9. August 1859

ich kann nicht warten bis Du auf meinen letzten Brief geantwortet hast. Ich muss Dir als meiner Vertrauten, die du ja immer warst, mein Herz ausschütten. Dinge, die Du nicht weisst, obwohl Du vermutlich glaubst, meine Familie und mich zu kennen.

Als Vater aus dem Dänischen Krieg zu uns nach Mönchzell kam, war Josef noch keine drei Jahre alt. Er war es, auf den nach ihren ständigen Auseinandersetzungen die wenigen Überreste väterlicher und mütterlicher Liebe fielen. Ich wurde nun fast ganz vernachlässigt. So oft sie von mir sprachen, hörte ich meinen Namen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung nennen, dir mir durch die Seele ging. Am Ende war das Gefühl nach einer liebreichen Behandlung ziemlich bei mir abgestumpft. Es war mir beinahe, als müsse ich ständig gescholten sein. Ein freundlicher Blick, den ich einmal erhielt, war mir etwas ganz Sonderbares, das nicht recht zu meinen übrigen Vorstellungen passen wollte.

Ich fühlte das innigste Bedürfnis nach einer Freundschaft zu einem der Mönchzeller Knaben. Allein das niederschlagende Gefühl der Verachtung, die ich von meinen Eltern erlitten, und die Scham wegen meiner armseligen, schmutzigen und zerissenen Kleidung hielten mich zurück, einen glücklicheren Knaben anzureden.

So hatte ich keinen, zu dem ich mich gesellen konnte, keinen Gespielen meiner Kindheit, keinen Freund unter Großen noch kleinen, nur Dich, Luise, nur dich. So wurde meine Begierde zu lesen unersättlich. Du hast mir damals ein Büchlein geschenkt. Darin standen außer biblischen Sprüchen auch einige Erzählungen von frommen Kindern, die ich mehr als hundertmal durchgelesen habe, ob sie gleich nicht viel Anziehendes hatten. Die einen handelten von einem sechsjährigen Knaben, der zur Zeit der Verfolgung die christliche Religion nicht verleugnen, wollte, sondern sich lieber auf das entsetzlichste peinigen und nebst seiner Mutter als ein Märtyrer für die Religion sein Leben ließ. Die andere handelte von einem bösen Buben, der sich im zwanzigsten Jahr seine Lebens bekehrte und bald darauf starb.

Durch das Lesen war mir nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuss ich mich für alle das Unangenehme in meiner Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rum um mich her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte oder ich mich vergebens nach einem Gespielen umsah, so eilte ich hin zu meinem Buche. So ward ich schon früh aus der natürlichen Mönchzeller Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo mein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andere mit voller Seele genießen können.

Du weißt ja wie krank ich wurde. Man gab mich völlig auf, und ich hörte beständig von mir reden, wie von einem, der schon wie ein Toter beobachtet wird. Wäre Deine Mutter nicht mit mir zum Arzt nach Meckesheim gegangen, wer weiß. Die Kur von einigen Monaten stellte mich wieder her. Kaum war ich einige Wochen gesund, als mich gerade bei einem Spaziergange mit den Eltern Richtung Lobenfeld, der mir etwas Seltnes und eben daher desto reizender war, der linke Fuß zu schmerzen anfing. Dies war nach überstandner Krankheit mein erster und sollte – wie Du weißt – auf lange Zeit mein letzter Spaziergang sein. Am dritten Tage war die Geschwulst und Entzündung am Fuße schon so gefährlich geworden, dass man am vierten zur Amputation schreiten wollte. Meine Mutter saß und weinte und mein Vater gab mir zwei Kreuzer. Dies waren die ersten Äußerungen des Mitleids gegen mich, deren ich mich von meinen Eltern erinnern kann, und die wegen der Seltenheit einen desto stärkeren Eindruck auf mich machten.

Am Tag der beschlossenen Amputation kam der mitleidige Herr Schuster zu meiner Mutter und brachte ihr eine Salbe, durch deren Gebrauch sich die Geschwulst und Entzündung im Fuße während weniger Stunden legte. Zum Fußabnehmen kam es nun nicht, aber der Schaden dauerte demohngeachtet vier Jahre lang, ehe er geheilt werden konnte. Bei diesem Schaden konnte ich zuweilen ein ganzes Vierteljahr nicht aus dem Hause gehen, nachdem er eine Weile zuheilte und immer wieder aufbrach. Oft musste ich ganze Nächte hindurch wimmern und klagen und die abscheulichsten Schmerzen fast alle Tage beim Verbinden erdulden. Dies entfernte mich natürlicherweise noch mehr aus der Welt und fesselte mich immer mehr an das Lesen der Bücher. Ich las alles was Geschichte in der Bibel ist, vom Anfang bis Ende durch. Ab und an konnte meine Mutter den Vater überreden Kirchenlieder auf der Zither zu spielen, wozu wir sangen. Vater gab mir auf die Lieder auswendig zu lernen. Sie waren anziehend für meine weiche Seele und machten einen Eindruck auf mein Herz, der unauslöschlich geblieben ist. Oft tröstete ich mich in einsamen Stunden, wo ich mich von aller Welt verlassen glaubte, durch ein solches Lied vom seligen Ausgehen aus mir selber und der süßen Vernichtung vor dem Urquelle des Daseins.

Dich werden sicher noch die neuesten Nachrichten interessieren. Gestern Abend verunglückte bei Schlierbach ein junger Mensch von 18 Jahren, indem er sich auf seinem Schiffe ausruhte, jedoch alsbald einschlief und in diesem Zustand in den Neckar fiel und ertrank. Mehrere Fischer in der Nähe, welche den Fall hörten, stellten sofort alle möglichen Nachforschungen an – allein sie konnten den Verunglückten trotz aller Mühe nicht finden. Erst heute  Morgen wurde derselbe als Leiche nicht weit von dem Platze, wo das Schiff stand, entdeckt.[6]

Die neuesten Nummern des „Badischen Centralblattes“ enthalten die Ergebnisse der Volkszählung vom Dezember 1858. Der Konfession nach sind fast genau ein Drittel Evangelische und zwei Drittel Katholiken. Ausgewandert sind 7416 Personen. Die größten Städte des Landes zeigen folgende Einwohnerzahlen auf: Mannheim 26.915; Karlsruhe 25.762; Freiburg 16.732; Heidelberg 15.597, Pforzheim 13.250; Bruchsal 7.882; Konstanz 7.219; Rastatt 7.216; Baden 7.212; Lahr 7.156.

Das ganze Land wird übrigens von schwersten Hagelunwettern heimgesucht, hoffentlich bleibt ihr in Mönchzell verschont.

Dein Anton

(3) Liebe Luise, Heidelberg, den 17. August 1859

von dem schweren Meckesheimer Brandunglück aus Deinem letzten Brief hat auch die hiesige Presse berichtet. Ich zitiere: „Meckesheim. Amt Neckargemünd, den 10. August 1859. Leider haben wir von einem schweren Brandunglück zu berichten, das heute Morgen 7 Uhr unsere Gemeinde betraf, indem in einer Scheuer ein Brand ausbrach, der in kurzer Zeit drei Wohnhäuser und vier Scheuern in Asche legte. Der thätigen Hilfe der zahlreich von allen Seiten herbeieilenden Löschenden gelang es, dem weitern Umsichgreifen des Feuers Einhalt zu thun. Auch das erst neu errichtete Rettungshaus traf dies herbe Loos. Doch konnte hier fast alles Bewegliche gerettet werden und blieben alle unversehrt. Wir haben bereits eine freundliche Aufnahme für die Kinder in einem andern Hause hier gefunden.“[7]

Auf dieses Unglück hin hat das Bürgermeisteramt von Leimen für seine Gemeindeglieder hier in Heidelberg 300 blecherne Kästchen zur Aufbewahrung von Streichfeuerzeugen bestellt, welche in jeder Küche mannshoch anzunageln sind, um zu verhüten, dass Kinder in den Besitz derselben kommen können. Wenn dieser praktische Vorschlag auch nicht alle Gefahr, welche stetsfort in dem unvorsichtigen Gebrauche der Streichhölzchen liegt, beseitigt, so ist er doch geeignet, Unglücke wie in Sandhausen und Meckesheim stattfanden, zu verhüten. [8]

Was kann ich sonst noch berichten?

An unserem Großherzoglichen Lyceum finden die öffentlichen Prüfungen am 16., 17., 18. Und 19. August statt und der feierliche Schlussakt mit Verkündigung der Promotion und Entlassung auf die Universität am Samstage, den 20. August. Wir werden viel Besuch von den Eltern und Angehörigen unserer Schüler und aller Freunde wissenschaftlicher Bildung und Erziehung der Jugend an unserer Anstalt haben. Wir haben hier jetzt 196 Schüler. Von diesen sind 137 evangelische, 57 katholische, 1 deutschkatholischer und 1 israelitischer Schüler. Dem Auslande (also außerhalb Badens, das war ja schon Ausland) gehören 7 Schüler an.[9]

Ein vor wenigen Tagen stattgehabtes Duell macht viel von sich reden, weil es auf politische Ursachen zurückgeführt wird. Ein der Mannheimer Garnison angehöriger Lieutenant, früher Student, wurde in Heidelberg von einem Studierenden insultiert. Eine Herausforderung auf Säbel war die Folge. Das Duell ging, wie man hört, mit Billigung des Offizierscorps vor sich und hatte den Ausgang, dass nach langem fruchtlosem Fechten endlich der Student einen furchtbaren Hieb empfing, der ihm sein Gesicht in schräger Richtung in zwei Hälften theilte. Der Offizier blieb unverletzt. [10]

Wie ich lese, soll die Jagd auf dem Dilsberg auf 1000 Morgen Feld und 700 Morgen Wald auf neun Jahre verpachtet werden.[11]

Über die Verlassenschaft der Sebastian Schmitt’s Witwe in Wimmersbach wurde vom Großherzoglichen Bezirksamt Neckargemünd Gant erkannt und wird Tagfahrt zum Richtigstellungs- und Vorzugsverfahren auf Freitag, den 26. August des Jahres, Vormittags 8 Uhr anberaumt.[12]

Soviel für heute. Heute war mir nicht daran meinen psychologischen Roman mit den Mönchzeller Erlebnisse fortzusetzen, rührt es doch immer noch sehr an mein Gemüt.

Es grüßt dich in vertrauter Freundschaft

Anton

 

(4) Liebe Luise,

lass mich heute weiter von Vater und Mutter erzählen. Von Mönchzell. Das zweite Buch, das mir Vater neben den Kirchenliedern zum Lesen gab, war eine „Anweisung zum inneren Gebet“. Dies ward von mir mit größtem Eifer befolgt, weil ich wirklich begierig war, so etwas Wunderbares wie die Stimme Gottes in mir zu hören. Nun fing ich an, mich wirklich mit Gott zu unterreden, mit dem ich bald auf einem ziemlich vertrauten Fuße umging. Ich sprach mit Gott wie mit meinesgleichen und mir war es wirklich immer so, als ob Gott dieses oder jenes antwortete. Ich erinnere mich noch an die erste Reise, die ich mit meinem Vater machte. Wir fuhren zu einem Herrn von Karneppy, von dem mein Vater ständig mit solcher Ehrfurcht wie von einem übermenschlichen Wesen geredet hatte. Dort sollte  ich von meinen großen Fortschritten in der inneren Gottseligkeit Rechenschaft ablegen. Mein Vater gab sich mehr mit mir ab als in Mönchzell. Den Ort, an dem Herr von Karneppy lebte, will ich nicht nennen. Ich habe auch den Namen Karneppy verballhornt. Es war eine weite Reise. Dabei sah ich die Natur in unaussprechlicher Schönheit. Die Berge rundumher in der Ferne und in der Nähe und die lieblichen Täler entzückten meine Seele und schmolzen sie in Wehmut, die teils aus der Erwartung der großen Dinge entstand, die hier mit mir vorgehen sollten. Der erste Gang mit meinem Vater war in das Haus des Herrn von Karneppy, wo mein Vater den Verwalter, Herrn H., zuerst sprach, ihn umarmte und küsste und auf das freundschaftlichste von ihm bewillkommnet wurde.

Ohngeachtet der großen Schmerzen, die ich durch die Reise an meinem Fuß empfand, war ich doch beim Eintritt in das Haus des Herrn von Karneppy vor Freude außer mir. Ich blieb diesen Tag in der Stube des Herrn H., mit dem ich künftig alle Abend speisen musste. Übrigens kümmerte man sich im Hause doch lange nicht so viel um mich, wie ich erwartet hatte. Nun bekam ich mit Bewilligung des Herrn von Karneppy, das mich wieder in eine ganz andere und für mich neue Welt führte. Hier las ich nur die Geschichte von Troja, von Odysseus, von der Circe, vom Tartarus und Elysum und war sehr bald mit allen Göttern und Göttinnen des Heidentums bekannt. Dies hatte nun freilich für meine Seele weit mehr Anziehendes als die biblische Geschichte und da mir nie eigentlich gesagt worden war, dass jenes wahr und dieses falsch sei, so fand ich mich gar nicht ungeneigt, die heidnischen Göttergeschichten, mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu glauben.

Ebensowenig konnte ich aber auch, was in der Bibel stand, verwerfen. Ich suchte also, welches mir allein übrig blieb, die verschiedenen System so gut ich konnte, in meinem Kopfe zu vereinigen und auf diese Weise die Bibel mit den griechischen Sagen und die heidnische Welt mit der christlichen zusammenzuschmelzen. Gottvater mit Jupiter, der Himmel und Elysium, die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel machten bei mir die sonderbarsten Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben. Dies machte einen so starken Eindruck auf mein Gemüt, dass ich noch lange nachher eine gewisse Ehrfurcht gegen die heidnischen Gottheiten behalten habe. Als wir wieder nach Mönchzell zurückgekehrt waren, schnitzte ich mir alle Helden der griechischen Sage von Papier, bemalte sie nach den Kupferstichen mit Helm und Panzer und ließ sie einige Tage in Schlachtordnung stehen, bis ich endlich ihr Schicksal entschied und mit grausamen Messerhieben unter ihnen wütete, diesem den Helm, jenem den Schädel zerspaltete und rund um mich her nicht als Tod und Verderben sah. So liefen alle meine Spiele, auch mit Kirsch- und Zwetschgenkernen auf Verderben und Zerstörung hinaus. Wenn ich Fliegen mit einer Klappe totschlug, so tat ich dieses mit einer Art von Feierlichkeit, indem ich einer jeden vorher die Totenglocke läutete. Das allergrößte Vergnügen machte es mir, wenn ich eine aus kleinen papiernen Häusern erbauete Stadt verbrennen und dann nachher den zurückgebliebenen Aschenhaufen betrachten konnte. Selbst der Gedanke an meine eigene Zerstörung verursachte mir eine wollüstige Empfindung, wenn ich oft des Abens, ehe ich einschlief, mit die Auflösung meines Körpers zu Asche und deren Auseinanderfallen und Versinken im Boden lebhaft dachte.

Der dreimonatige Aufenthalt bei Herrn Karneppy war für mich in vieler Hinsicht sehr vorteilhaft. Ich war fast immer mir selbst überlassen. Auch logierte in unserem Haus ein Engländer, der gut deutsch sprach und sich mit mir mehr abgab, wie irgendeiner vor ihm getan hatte, indem er anfing mich durch bloßes sprechen Englisch zu lehren und sich über meine Progressen freute. Ich unterredete mich mit ihm, ging mit ihm spazieren und konnte am Ende fast gar nicht mehr ohne ihn sein. Dies war der erste Freund, den ich auf Erden fand: Mit Wehmut nahm ich von ihm Abschied. Der Engländer drückte mir bei einer Abreise ein silbern Schaustück in die Hand, das sollte ich ihm zum Andenken aufbewahren, bis ich einmal nach England käme, wo mir sein Haus offen stände: Nach 15 Jahren kam ich wirklich nach England und hatte noch sein Schaustück bei mir, aber der erste Freund meiner Jugend war tot.

Freilich kehrte ich nun nicht so wieder nach Mönchzell zurück, wie ich erwartet hatte, aber doch war ich in dieser kurzen Zeit ein ganz andrer Mensch geworden und meine Ideenwelt um ein Großes bereichert.

Nun noch zu den Neuigkeiten:

Die Befürchtungen anlässlich der anhaltenden Dürre in Bezug auf Tabak mehren sich und sind mancher Orts von großer Erheblichkeit. Auch in Mönchzell? Die Entwicklung der Pflanze, gehemmt durch allzu große Trockne, blieb im Blatt dich und schwer und erhielt bis jetzt die als Um- und Deckblatt nötige Feinheit und Ausdehnung nicht. Diese Erscheinung hat zweiffellosen Mangel an zur Cigarrenfabrikation tauglicher Ware in sicher Aussicht gestellt, der bei schon heute stark angezogenen Preisen später noch größere Teuerung veranlassen dürfte. 57er und 58er Ware ist dadurch gesucht und heute mit circa 26 bis 28 Gulden, also um 10 Gulden höher als bislang bezahlt.

Lobenfeld. Amts Eberbach. Montag den 22. August, Mittags 1 Uhr werden auf dem Ratszimmer zu Lobenfeld folgende Arbeiten für ein neues katholisches Schulhauf öffentlich versteigert. 1. Maurerarbeit mit Frohnden 2242 Gulden 18 Kreuzer; 2. Steinhauerarbeit 268 Gulden 40 Kreuzer, 3) Zimmerarbeit 894 Gulden 2 Kreuzer 4) Schreinerarbeit 338 Gulden 33 Kreuzer 5 ) Schlosserarbeit 215 Gulden 4 Kreuzer 6) Glaserarbeit  118 gulden 33 Kreuzer 7) Blechnerarbeit 80 Gulden 30 Kreuzer 8) Tüncherarbeit 116 Gulden 55 Kreuzer 9) Pflästererarbeit 49 Gulden 24 Kreuzer. Plan und Überschlag, sowie die Bedingungen können von heute an auf dem Rathszimmer eingesehen werden.[13]

Die Niederreißung der Trennmauer in der Heidelberger Heiliggeistkirche findet allseitigen Anklang. Bekannt ist, dass die Räumlichkeit der Heiliggeistkirche evangelischen Teils dem Bedürfnis nicht genügt, dass auf der anderen Seite die katholische Seite des westlichen Teils der Stadt einer größeren Kirche entbehrt. Wie wäre es eigentlich, wenn von den katholischen Glaubensgenossen auf das Chor der Heiliggeistkirche verzichtet würde und man diesen dafür den ganzen Raum der alten Dominikaner-Kirche der früheren alten Anatomie als Kirche übergäbe, beziehentlich einrichtete?

Nach einer Bekanntmachung des Großherzoglichen Amtsgerichts wurde gestern Vormittag in Heidelberg am Neckar am Ufer, in der Nähe der Bergheimer Mühle, ein neugebornes totes Kind mit der Nachgeburt in einer offenen Schachtel mit Lumpen umhüllt, aufgefunden. Die Sektion hat ergeben, dass das Kind gelebt hat und nach allen Anzeichen den Tod des Erwürgens fand.

Spechbach. Bezirksam Eberbach. Am Mittwoch 31. August 1859, Nachmittags 12 Uhr wird auf dem Spechbacher Rathaus die Winterschafswaide, welche mit  400 Stück Schafen betrieben werden darf, versteigert.[14]

Vom schönen Bodensee lese ich, dass dort die Herbstnebel schon jeden Morgen kommen. Man nennt sie dort „Traubenbeißer“, weil sie die Beeren erweichen. Die Trauben selbst sind in diesem heißen Jahre ganz ungewöhnlich vorangeschritten und man erwartet einen qualitativ ganz ausgezeichneten Herbst.

Sei herzlich gegrüßt

Dein Anton

(5) Liebe Luise,   Heidelberg, im September 1859

auf der Reise hatte mir mein Vater auch meine beiden Stiefbrüder vorgestellt, von denen ich bislang nichts wusste. Herr Karneppy hatte es ihm wohl aufgetragen. Wieder in Mönchzell wurden durch die neuerliche Zwietracht meiner Eltern, wozu auch die Ankunft meiner beiden Stiefbrüder vieles beitrug, und durch das unaufhörliche Schelten und Toben meiner Mutter die guten Eindrücke, die ich im Hause Karneppy erhalten hatte, bald wieder ausgelöscht. Ich befand mich aufs Neue in meiner vorherigen gehässigen Lage, wodurch meine Seele ebenfalls finster und menschenfeindlich gemacht wurde.

Da meine beiden Stiefbrüder bald abreisten, um ihre Wanderschaft anzutreten, war auch der häusliche Friede eine Zeitlang wiederhergestellt. Mein Vater erzählte mir nun zuweilen ein Stück aus der älteren oder neueren Geschichte, worin er wirklich bewandert war. Neben seiner Musik, worin er es praktischen weit gebracht hatte, machte er beständig aus dem Lesen nützlicher Bücher ein eignes Studium bis endlich seine geistlichen Schriften alles verdrängten.

Auch war Vater außer dem Hause ein sehr umgänglicher Mann und konnte sich mit den Mönchzeller Nachbarn über allerlei Materien angenehm unterhalten. Vielleicht wäre auch alles im Ehestande besser gewesen, wenn Mutter nicht das Unglück gehabt hätte, sich oft für beleidigt und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben und ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden, worin sie eine Art von Vergnügen fand. Du kennst sie ja.

Leider scheint sich diese Krankheit auf mich fortgeerbt zu haben. Noch jetzt habe ich oft vergeblich damit zu kämpfen.

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen und mir mein Anteil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sei der meinige, so ließ ich ihn lieber liegen, ob ich gleich wusste, dass er für mich bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden und sagen zu können, alle anderen haben etwas und ich nichts bekommen! Da ich schon eingebildetes Unrecht so stark empfand, um so viel stärker empfand ich das wirkliche. Und gewiss ist wohl bei niemandem die Empfindung des Unrechts stärker als bei Kindern, und niemandem, kann auch leichter Unrecht geschehen. Ein Satz, den alle Eltern und Lehrer täglich und stündlich beherzigen sollten.

Oft konnte ich stundenlang nachdenken und Gründe gegen Gründe auf das Genaueste abwägen, ob eine Züchtigung von meinem Vater Recht oder Unrecht war.

Nach der Rückkehr von Karneppy genoß ich zum ersten Male das unaussprechliche Vergnügen verbotener Lektüre.

Mein Vater war ein abgesagter Feind von allen Romanen und drohte ein solches Buch sogleich mit Feuer zu verbrennen, wenn er es im Hause fände. Dem ohngeachtet, bekam ich durch meine Mönchzeller Base, die Tausend und eine Nacht und die Insel Felsenburg in die Hände, die ich  nur heimlich und verstohlen, obgleich mit Wissen der Mutter, in der Kammer las und gleichsam mit unersättlicher Begierde verschlang.

Die Bücher regten meine Einbildungskraft an. Wie oft, wenn ich an einem trüben Tage bis zum Überdruß und Ekel in der Stube eingesperrt war, erwachten in mir Vorstellungen vom Paradiese, vom Orient, von der Insel der Kalypso oder der Insel Felsenburg, die mich stundenlang entzückten.

Ich erinnere mich aber auch der höllischen Qualen, die diese Erzählungen und die Märchen meiner Mutter und meiner Base im Wachen und im Schlafen machten. Wenn ich im Traum lauter Bekannte um mich sah, die mich mit scheußlich verwandelten Gesichtern anbleckten oder gar der Teufel bald wie ein fleckiges Huhn, bald wie ein schwarzes Tuch an der Wand mir erschien.

In Mönchzell jagte mir jede alte Frau Furcht und Entsetzen ein, so viel hörte ich beständig von Hexen und Zaubereien. Und wenn der Wind oft mit sonderbarem Getön über das Haus pfiff, so nannte meine Mutter ohne weiter darüber nachzudenken dies den Nachtkrabb, der die bösen Kinder holte, die sich nach Einbruch der Dunkelheit noch im Freien aufhalten, und mit ihnen so weit fortfliegt, dass sie Mönchzell nie mehr wiederfinden.Allein sie würde es nicht getan haben, hätte sie gewusst, wie manche grauenvolle Stunde und wie manche schlaflose Nacht, dieser Nachtkrabb mir noch lange nachher gemacht hat.

Insbesondere waren immer die letzten vier Wochen vor Weihnachten für mich ein Fegefeuer. Da ging kein Tag hin, wo sich nicht ein sonderbares Getöse oder ein Scharren vor der Türe oder eine dumpfe Stimme hätte hören lassen, die den Benzenickel anzeigte, den ich im ganzen Ernst für einen Geist oder ein übermenschliches Wesen hielt, und so ging auch diese ganze Zeit über keine Nacht hin, wo ich nicht mit Schrecken und Angstschweiß vor der Stirne aus dem Schlaf erwachte.

Weil meine Träume größtenteils sehr lebhaft waren und beinahe an die Wirklichkeit grenzten, so fiel mir ein, dass ich wohl auch am hellichten Tage träume und die Leute um mich her, nebst allem, was ich sah, Geschöpfe meiner Einbildungskraft sein könnten.

Es kam die Zeit, dass mein Vater wieder beschhloss zu Herrn Karneppy zu fahren und mich mit zu nehmen. Allein diesmal sollte ich nicht so viel Freude als beim ersten Mal dort genießen, denn Mutter reiste mit. Davon im nächsten Brief mehr.

Wie gewohnt die neuesten Nachrichte, liebe Luise:

Zunächst eine Nachricht aus Mönchzell, die dich sicherlich interessieren wird. „Etwaige Forderungen an Johann Henrikus ledig, von Mönchzell, sind Freitag , den 23. des Monats, Vormittags 11 Uhr, im Amtshaus zu Neckargemünd anzumelden.“[15]

Im deutschen Vaterlande sucht alles nach einer politischen Einheit. Es tauchen eine Masse von Vorschlägen hierzu auf. Doch tritt irgend ein solcher Vorschlag an das Licht der Welt, so fallen hundert Stimmen im deutschen Einheitsgefühle über denselben und ersticken das arme Kind vor der Geburt.

Allgemein rühmt man die Liberalität, mit welcher die Regierung das Gesetz über die Verbesserung der Volksschullehrerstellen ausgeführt hat.

Am 2. September stürzte sich  – wahrscheinlich absichtlich – ein junger Mann von den Zinnen des Königstuhlturms herab und war plötzlich tot. Derselbe soll ein Kandidat der Theologie aus Worms sein, an dem man aber seit Kurzem Spuren des Wahnsinns bemerkt haben will. Er hielt sich für den Antichristen.

Das großherzogliche Staatsministerium hat diesen Monat erklärt, dass die Bau-Arbeiten an der Eisenbahnstrecke zwischen Heidelberg und Mosbach beginnen. Die Arbeiten für die Odenwald-Bahn sollen im Herbst 1861 vollendet sein. Die in Deutschland jetzt schon bestehenden 50 Bahnen haben zusammen eine Ausdehnung von 1407 Meilen. 606 Meilen sind Staatsbahnen, 801 Meilen Privatbahnen. Es sind 2.591 Lokomotiven und 4.861 Personenwagen und 48.070 Lastwagen in Verwendung.  Es gab in 1857 464 Unfälle, dabei wurden m Ganzen 451 Personen verletzt, und zwar 171 getödtet. Bei den Reisenden gab es 23 Verletzungen und keine Toten. Getöte Bahnbeamte waren es 117, dritte Personen 54.

In der gestrigen Sitzung des Hofgerichts in Mannheim wurden Phillip Heiß II., Bürgermeister von Haag und Phillip A. Fleischmann, Rentamtman von Sinsheim als Geschworener des Schwurgerichts unseres Unterrheinkreises gezogen.[16]

Am Freitag, den  9. September wurde das Geburtstagsfest Seiner Königlichen Hoheit unseres Grißherzogs Friedrich von Baden durch einen Gottesdienst in der katholischen Stadtkirche zu Heidelberg festlich begangen. Der Herr Erzbischof hatte wegen des Geburtstages das Verbot des Fleischessens für diesen Freitag aufgehoben. Dagegen durfte in katholischen Orten Tanzbelustigung an dem Tage, da Christus der Herr gestorben ist, nicht abgehalten werden.

Am 8. September fand man hinter den der Neckardampfschiffahrtsverwaltung gehörigen hölzernen Magazinen am Krahnen ein in Lumpen eingehülltes, kau einige Tage altes totes Kind. Die Ursache des Todes soll eine gewaltsame gewesen sein – auch ist man der Verbrecherin – einem verhafteten Heidelberger Dienstmädchen – bereits auf der Spur.

Am 14. September sind am Abend in Wiesloch, sechs Gebäude, darunter 4 Wohnhäuser, ein Raub der Flammen geworden.

Unser Großherzogtum zählt nach der neuesten Zählung von 1858 1.335.952 Seelen und misst 278 Quadratmeilen. Das Königreich Bayern hat eine Gesamtbevölkerung von 4.615.748 Köpfen.

Montag, den 26. September des Jahres, wird die Erbauung eines neuen Schulhauses zu Baierthal versteigert.[17]

Neckargemünd, 23. Sept. Da die bekannten gesetzlichen Erben des Friedrich Hetzel von Reilsheim uf dessen Verlassenschaft verzichtet, dagegen dessen hinterlassene Witwe um Einweisung in Besitz und Gewähr derselben gebeten hat, so wird diesem Gesuche stattgegeben, wenn nicht innerhalb von 4 Wochen Einsprache erhoben wird.[18]

Die Zwetschgenernte in Mosbach wird auf 15.506 Sester (1 Sester = 15 Liter)  mit einem Wert von 7000 Gulden geschätzt.

Sei lieb gegrüßt

Anton

 

(6) Liebste Luise, Heidelberg, den 31. Oktober 1859

Wie mitgeteilt fuhren wir das zweite Mal von Mönchzell zu Herrn Karneppy, wobei mir meine Mutter die Freude doch verleidete. Ihr unaufhörliches Verbieten von Kleinigkeiten und beständiges Schelten und Strafen zu unrechter Zeit verleidete mir alle edleren Empfindungen, die ich im Jahr  zuvor in Karneppy (lass mich den Ort so nennen) gehabt hatte. Mei Gefühl für Lob und Beifall ward dadurch so stark unterdrückt, dass ich mich – entgegen meiner Natur – mit den übelsten Gassenbuben abgab. Liebe und Achtung hatte ich nämlich durch meine Mutter verloren, die sowohl gegen den Vater wie den Mönchzellern von nichts als meiner schlechten Aufführung sprach. Hierdurch fing diese wirklich an, schlecht zu werden und mein Herz verschlimmerte sich.

Bald nach der Rückkehr in Mönchzell sollte ich von meinen Eltern getrennt werden. Fürs erste stand mir eine große Freude bevor. Mein Vater ließ mich auf Zureden des Herrn Karneppy aufs Heidelberger Lyceum. Beim ersten Eintritt waren mir schon die dicken Mauern, dunklen gewölbten Gemächer, hundertjährigen Bänke und vom Wurm durchlöcherte Katheder nichts wie Heiligtümer, die meine Seel mit Ehrfurcht erfüllten.

Der Konrektor, ein kleines munteres Männchen, flößte mir, durch seinen schwarzen Rock und Perücke einen tiefen Respekt ein. Obgleich er sehr strenge war, habe ich doch niemals einen Vorwurf noch weniger einen Schlag von ihm bekommen. Ganz anders als das bei den Eltern war. Ich glaubte daher auch im Lyceum immer mehr Gerechtigkeit als zu Hause zu finden. Auch in der Schule in Mönchzell hatte ich mich wohler als zu Hause gefühlt. Ohngeachtet mancher Kopfnüsse und Tatzen die ich dort von unserem alten Lehrer D. bekommen hatte, liebte ich ihn doch so aufrichtig, dass ich mich für ihn aufgeopfert hätte.

Da ich fleißig lernte, schwang ich mich nach kurzer Zeit von einer Stufe zur anderen empor und rückte immer näher an die Besten heran. Welch eine glückliche Lage welch eine herrliche Laufbahn für mich. Ich sah nun zum ersten Male in meinem Leben einen Pfad des Ruhms vor mir eröffnet, was ich mir so lange vergeblich gewünscht hatte. Doch das Glück sollte nur von kurzer Dauer sein. Darüber mehr im nächsten Brief.

Hier wieder die gewohnten Nachrichten:

Du wirst es schon gehört haben. Seine Großherzogliche Hoheit der Herr Markgraf Wilhelm ist in der Nach zum 11. Oktober halb drei Uhr aus dieser Zeitlichkeit abberufen worden. Diese Trauerbotschaft aus Karlsruhe kommt nicht überraschen, da man schon seit einiger Zeit das Herannahen des Todesengels gewahren konnte. Nach seiner letztwilligen Anordnung soll keine Landestrauer stattfinden und dessen Leiche nicht für das Publikum auf dem Paradebett ausgestellt werden.

Die Wiesenbacherin Agathe Margaretha Ebinger wurde wegen Kindsmord zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Schwurgerichtshof in Mannheim verhandelte am 28. September in geheimer Sitzung.[19]

Am 3. Oktober hat hier in Heidelberg die Weinlese begonnen und verspricht sowohl in Quantität wie Qualität ein höchst günstiges Resultat.

Amerika. Eine Anzahl angesehener Deutscher in New-York strebt nach Ausrottung des von Deutschen betriebenen „Handels mit weißem Menschenfleisch“. Dieser Handel besteht in der miethweisen Übernahme junger Mädchen (meistens aus dem Hessischen) und deren Benutzung zu unsittlichen Handlungen. Etwas Ähnliches wird im badischen Odenwalde selbst vorbereitet. Es soll dort nämlich ein Stück weißes Menschenfleisch aber nicht etwa vermiethet, sondern verhandelt werden, und zwar an einen Sohne Albions, welcher ein Frau von da kennen lernte, die ihr der zärtliche Ehegatte gegen 2000 Gulden und ein Bauerngut abtreten will. Auffallender Weise sollen jetzt die günstigsten Anzeigen für Nachkommenschaft vorhanden sein, während die seitherige Ehe 12 Jahr hindurch kinderlos blieb.

Vor dem Heidelberger Karlstore wurde die neue Odenwälderbahn dadurch in Angriff genommen, indem daselbst schon mit dem Abriss der Häuser begonnen wurde.

Die Erbauung des Schulhauses Baierthal wird am 12. Oktober auf dem Rathause versteigert.

Wer einen Anspruch gegen die ledige Maria Josepha Laier von Rauenberg zu machen hat, kann diesen beim Großherzoglichen Bezirksam Wiesloch geltend machen.

Der Amtsrichter Scheuermann wurde vom Amtsgericht Neckarbischofsheim an das Amtsgericht Emmendingen versetzt.

Resultat der am 18. Oktober vollzogenen Landtagswahlen, für den 33. Ämter-Wahlbezirk Sinsheim : Hr. Oberkirchenrath Muth zu Karlsruhe. 37. Ämter-Wahlbezirk Eberbach-Mosbach: Hr. Geheimer Rath Regierungs-Direktor Schaaf zu Freiburg.

Nicht uninteressant fand ich die Ansichten der großen „Times“ über unsere politischen Zustände zu vernehmen. Lassen wir das große Blatt selbst reden: „Es ist lediglich die Macht der Gewohnheit, dass die Engländer von Deutschland und den Deutschen reden, als wäre ersteres ein ungeteilter Staat wie Frankreich oder Spanien, und als wären die Letzteren ein Nation wie die Engländer oder Schweden. Deutschland ist eine Nation und keine Nation und wird von einer Regierung beherrscht, die keine Regierung ist. Es hat keine politische Festigung und doch fehlt es seinen einzelnen Teilen nicht an Zusammenhangskraft. Dieses Alles ist um so merkwürdiger, als von allen Völkern der Erde keines von dem Geister der Nationalität und Bruderschaft tiefer durchdrungen ist, als die Deutschen. Die Bande gemeinsamer Abstammung und Sprache haben bei ihnen eine ungemeine Bindekraft, und ihre Liebe zu „Fatherland“ geht bis zur religiösen Verehrung. Trotz all dieser Elemente der Einigkeit ist Deutschland nicht geeinigt. Es gab eine Zeit vor sieben oder acht Jahrhunderte, da Deutschland die erste Nation von Europa war und wenigstens eben so viel Zusammenhalt hatte als andere Nationen, und sein Oberhaupt den Vortritt vor  allen Fürsten der Christenheit hatte. Aber gerade die Größe dieses Reiches wurde seinem Zusammenhalt verderblich und führte allmählich  Zerstückelung herbei. Als das Gebäude zu Anfang dieses Jahrhunderts ganz auseinander fiel, blieb das Prinzip des alten Staatswesens am Leben und der Deutsche Bund behielt die meisten Kennzeichen des alten deutschen Reiches, deren Hauptsächliches darin besteht, dass der große deutsche Körper nicht einmal dem Namen nach ein Haupt besitzt. Die tatsächliche Unabhängigkeit aller einzelnen Bundesfürsten ist so groß, dass man den Bund nicht dahin bringen kann, sich nur einen Schritt weiter zu rühren. Die unauslöschliche Eifersucht zwischen Österreich und Preußen verhindert fast jeden Versuch einer Reform. Der Souverän eines wirklich einigen Deutschlands würde wie vor Zeiten einer der mächtigsten Monarchen der Welt sein und dies ist eine zu beneidenswerte Stellung als dass die eine Großmacht zugunsten der anderen darauf verzichten sollte. Die jetzige Bewegung zielt gleich der vorigen auf die Erhöhung Preußens ab und daher auf den entschiedenen Widerstand Österreichs gestoßen. Was uns betrifft, so können wir nur noch den Wunsch aussprechen, dass die Deutschen ein Volk von unserem Blut und Stamm zu einer Lösung gelangen mögen, die ihnen das höchste Maß des Glückes, der Freiheit und Kraft sichern möge.“

Die erste Lokomotive, welche in Darmstadt gebaut wurde, hat soeben ihre Probefahrt von Frankfurt nach Heidelberg glücklich bestanden.

In Schatthausen wird am 26. Oktober die Winderschafwaide versteigert.

Von dem Preisaufgabenverein badischer Volksschullehrer ist als Preisfrage ausgeschrieben: „Ist die Jugend in unseren Tagen roher und unsittlicher, insbesondere zuchtloser und gegen Eltern und Lehrer unbotmäßiger als in früheren“

Der Feldberg und die Bergspitzen des Schwarzwald sind seit 21. Oktober mit Schnee bedeckt.

 

(7) Liebe Luise, Heidelberg den 11.11.1859

wie schon gesagt, brachte am Heidelberger Lyceum ein paar Monate ganz ungewöhnlich glücklich zu.

Aber welche ein Donnerschlag war es für mich, als mir die schreckliche Ankündigung geschah, dass mein Vater mich vom Lyceum an die Bürgerschule schicken wollte. Tränen und Bitten halfen nichts, der Ausspruch war getan. Vierzehn Tage vorher wurde es mir gesagt, und je näher der Tag des Abschieds vom Lyceum rückte, desto größer ward mein Schmerz.

Ich griff also zu einem Mittel, mir den Abschied aus dem Lyceum leichter zu machen. Anstatt, dass ich mich bemühte, weiter heraufzukommen, tat ich das Gegenteil und sagte entweder mit Fleiß nicht, was ich doch wusste, oder legte es auf andere Weise darauf an, täglich eine Stufe herunterzukommen, welches sich der Konrektor und meine Mitschüler nicht erklären konnten und mir oft ihre Verwunderung darüber bezeugten.

Ich allein wusste die Ursache davon und trug meinen geheimen Kummer in die Schlafkammer und ins Klassenzimmer. Jede Stufe, die ich auf diese Art freiwillig herunterstieg, kostete mich tausend Tränen, die ich heimlich vergoss. Ich hatte es selber so veranstaltet, dass ich gerade am letzten Tag der Unterste werden musste. Allein dies war mir zu hart. Die Tränen standen mir in den Augen und ich bat, man möchte mich doch nur heute an meinem Platz sitzen lassen morgen wolle ich gern den untersten Platz einnehmen.

Jeder hatte Mitleid mit mir, und man ließ mich sitzen. Den andern Tag war der  Monat  aus, und ich kam nicht wieder.

Oft, wenn der Konrektor in seinem Schlafrock aus dem Fenster sah und ich vor ihm vorbeiging, dachte ich: O könntest Du doch dein Herz gegen diesen Mann ausschütten. Aber dazu schien doch die Entfernung zwischen mir und dem Lehrer noch viel zu groß zu sein.

Ich wollte mich nach dem Schulwechsel noch an die letzte Stütze halten und mir von meinen ehemaligen Mitschülern jedes aufgegebene Pensum sagen lassen, um es geheim zu lernen und auf diese Weise mit ihnen fortzurücken. Als aber auch dies nicht gehen wollte, so erlag meine bisherige Tugend und Frömmigkeit, und ich ward wirklich eine Zeitlang aus einer Art von Missmut und Verzweiflung, was man einen bösen Buben nennen kann.

Ich zog mir mutwillig an der Bürgerschule Schläge zu und hielt sie alsdann mit Trotz und Standhaftigkeit aus, ohne eine Miene zu verziehen, und dies machte mir dazu ein Vergnügen, das mir noch lange in der Erinnerung angenehm war.

Ich schlug und balgte mich mit Straßenbuben, versäumte die Lehrstunden in der Schule und quälte einen Hund aus der Nachbarschaft, wie und wo ich nur konnte.

In der Kirche, wo ich sonst ein Muster der Andacht gewesen war, plauderte ich mit meinesgleichen den ganzen Gottesdienst über.

Der Gedanke, dass mir meine liebsten Wünsche und Hoffnungen fehlgeschlagen und die angetretene Laufbahn des Ruhms auf immer verschlossen war, nagte mich unaufhörlich und trieb mich zu allen Ausschweifungen.

Ich ward ein Heuchler gegen Gott, gegen andere und gegen mich selbst. Mein Vater suchte Rat bei Herrn von Karneppy. Wie es weiter ging, mehr im nächsten Brief.

Hier wieder die Tagesnachrichten, wobei ich manches Mal schmunzeln muss, wenn ich daran denke, wie näher du an den Orten des Geschehens bist, von denen ich dir aus der Zeitung berichte, und ich so weit weg:

Versetzt wurde Pfarrverweser Honikel inSpechbach nach Ketsch. Vikar Virneisel in Wiesental als Pfarverweser nach Spechbach. Pfarrverweser Gehrig von Wieblingen nach Rauenberg.

In Sandhausen sind schon wieder 3 Häuser und 5 Scheunen abgebrannt und 7 Stück Vieh kamen in den Flammen um.

Auch in Neckarbischofsheim brach bei heftigem Sturmwinde ein Brand aus, der so überhand nahm, dass ein großer Teil des Dorfes nun in rauchenden Trümmern darniederliegt. Man zählt 89 abgebrannte Gebäude und rechnet den Brandschaden auf etwa 200.000 Gulden. An Menschenleben ist eine ältere in den  Jahren schon vorgerückte Witwe zu beklagen, die leider in den Flammen umgekommen ist. Von Vieh dagegen sind zwei Farren und viele Kühe verbrannt. 79 Familien welche im Ganzen 333 Personen zählen sind obdachlos geworden und haben fast gar nichts gerettet.[20]

Der heftige Sturm, welcher in den letzten Tage wütete, hat auch eine große Zerstörungswut im Heidelberger Schloßgarten angerichtet, denn eine Masse der schönsten Bäume fielen demselben als Opfer.

Die große Schillerfeier fand  am 9. November statt. Was für ein Mensch. Neben dem eigenen Leid hat das Leiden des Volkes auf sein Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht, in jener Zeit, wo die deutschen Höfe das üppige Treiben des Französischen nachahmend dem Volke unerhörte lasten auferlegten. So wurden zum Beispiel in Württemberg die Bauern genötigt 6000 Hirsche auf einem Punkt zusammenzutreiben, welche dann in einen See gesprengt worden sind, um dort von den vornehmen Jägern um so leichter erlegt werden zu können. Unter solchen eindrücken ist dann der Gedanke zur Flucht in Schiller reif geworden (vor dem Sklaven, wen er die Kette bricht, vor dem freien Manne erzittere nicht). Und so hat er Heimat, Eltern und Geschwister verlassen und sich als Flüchtling längere Zeit in einem ärmlichen Wirtshause in Oggersheim verborgen gehalten. Es ist bemerkenswert, dass einer der größten Geister Deutschlands im Viehhof, hinter schlechten mit Papier verklebten Fenstern, in der traurigen Jahreszeit nicht einmal gegen Kälte geschützt, hat hungern müssen. Und so hat man ihm erst lange nach den ersten Stücken den geringen Jahresgehalt von 300 Gulden („fl.“) zuerkannt, worüber der Dichter hocherfreut, da ihm dadurch die Möglichkeit geboten wurde, Schulden für unumgängliche Lebensbedürfnisse zu zahlen. Die Verdienste Schillers um das deutsche Volk sind nach drei  Richtungen hervorzuheben. Zunächst ist sein echt deutsches Gemüt zu rühmen, dann seine allumfassende Menschenliebe und endlich seine Liebe zum Fortschritt zur Freiheit.

Von der Elsenz wird am 6. November berichtet, dass im ehemaligen Amtsbezirk Neckargemünd herrsche ein allgemein Unzufriedenheit über die Zuteilung zum Bezirksamt Eberbach. Gar mancher Amtsuntergeben habe sich nicht entschließen können, seine Ansprüche in Eberbach zu verfogen, da er die Kosten scheuen musste, sie ihm ein solcher weiter Weg, zumal im Winter, jenseits des Neckars verursache. Zudem bestehe gar kein Geschäftsverkehr nach Eberbach. Wolle man das Verwaltungsamt in Neckargemünd nicht mehr herstellen, so teilt die diesseitige Bevölkerung nur einen Wunsch, den nämlich, dass sie dem Oberamt Heidelberg zugeteilt wird.

So viel für heute. Ich bin müde.

Anton.

 

(8) Liebe Luise,  Heidelberg den 30. November 1859

Wie berichtet reiste mein Vater wieder nach Karneppy und ich schrieb ihm, wie schlecht es mit dem Selbstbessern vorwärts ginge und dass ich mich wohl darin geirrt habe, weil die göttliche Gnade doch alles tun müsse. Meine Mutter hielt diesen ganzen Brief für Heuchelei wie er denn wirklich nicht ganz davon frei sein mochte und schrieb eigenhändig darunter: Anton führt sich auf wie alle gottlosen Buben.

Dass ich mit allen gottlosen Buben in eine Klasse geworden wurde, schlug mich so sehr nieder, dass ich nun wirklich eine Zeitlang wieder ausschweifte und mich mutwillig mit wilden Buben abgab, worin ich denn durch das Schelten und sogenannte Predigen meiner Mutter noch immer mehr bestärkt wurde. Denn dies schlug mich immer noch tiefer nieder, so dass ich mich oft am Ende selbst für nichts mehr als einen gemeinen Gassenbuben hielt und nur um desto eher wieder Gemeinschaft mit ihnen machte.

Dies dauerte, bis Vater wieder von Karneppy zurückkam. Nur eröffneten sich für mich auf einmal ganz neue Aussichten. Schon zu Anfang des Jahres war meine Mutter mit Zwillingen niedergekommen, wovon nur der eine leben blieb, zu welchem ein Hutmacher in Heidelberg, namens Lobenstein, Gevatter geworden war. Dieser war einer von den Anhängern des Herrn von Karneppy, wodurch ihn mein Vater schon seit ein paar Jahren kannte.

Da ich nun doch einmal bei einem Meister sollte untergebracht werden (denn meine beiden Stiefbrüder hatten nun schon ausgelernt und  jeder war mit seinem Handwerke unzufrieden, wozu er von unserem Vater mit Gewalt gezwungen war), und da der Hutmacher Lobenstein gerade einen Burschen haben wollte, der ihm fürs erste nur zur Hand wäre: welch eine herrliche Türe eröffnete sich nun nach meines Vaters Meinung für mich, dass ich ebenso wie  meine Stiefbrüder bei einem so frommen Mann, der dazu eifriger Anhänger des Herrn von Karneppy war, schon so früh könne untergebracht und von demselben zur wahren Gottseligkeit und Frömmigkeit angehalten werden.

Dies mochte schon länger im Werk gewesen sein und war vermutlich die Ursach, warum mein Vater mich aus dem Lyceum genommen hatte.

Nun hatte ich aber, seit ich Latein gelernt hatte, mir das Studieren fest in den Kopf gesetzt. Denn ich hatte ein unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles, was studiert hatte und einen schwarzen Rock trug, so dass ich diese Leute beinahe für eine Art übermenschliche Wesen hielt. Was war natürlicher, als dass ich nach dem strebte, was mir auf der Welt das Wünschenswerteste zu sein schien.

Nun hieß es, der Hutmacher Lobenstein in Heidelberg, wolle sich meiner wie eines Freundes annehmen, ich solle bei ihm wie ein Kind gehalten sein und nur leichte und anständige Arbeiten, also etwas Rechnungen schreiben , Bestellungen ausrichten und dergleichen übernehmen, alsdann solle ich auch noch zwei Jahre in die Schule gehen bis ich konfirmiert wäre und mich dann zu etwas entschließen könne.

Dies klang in meinen Ohren äußerst angenehm, insbesondere der letzte Punkt von der Schule. Denn wenn ich diesen Zweck nur erst erreicht hätte, glaubte ich, würde es mir nicht fehlen, mich so vorzüglich auszuzeichnen, dass sich mir zum Studieren von selber schon Mittel und Wege eröffnen mussten.

Mein Vater brachte mich zu Lobenstein. Wir standen vor dem Hause. Es hatte ein schwärzliche Außenseite und eine große schwarze Tür, die mit vielen eingeschlagenen Nägeln versehen war. Oben hing ein Schild mit einem Hute heraus, woran der Name Lobenstein zu lesen war.

Im Nächsten Brief mehr. Hier wieder die Neuigkeiten:

Wie ich lese, wird in Baierthal am Montag, den 21. November des Jahres, Vormittgas 9 Uhr die Jagd auf Baierthaler Gemarkung auf weitere 6 Jahre auf dem Rathaus in Baierthal versteigert.[21] In Gauangelloch wird die Jagd am 26. November versteigert, in Mühlehausen am 20. November.

Der Bau unserer Eisenbahn um die Stadt schreitet mit lobenswerter Schnelligkeit vorwärts. Was die Erd- und Sprengarbeiten betrifft, so sind daran bei 300 Leute beschäftigt. Am Karstor ist schon ein großer Raum zum Baue des Bahnhofs und vor dem Tor dem Neckarbette zur Bahn selbst abgerungen. Der große Tunnel welcher unterhalb des Schlosses durch die Felsen gesprengt wird, ist sowohl von Osten und Westen wie an sechs verschiedenen Stellen in Angriff genommen, wo bereits die Arbeiten bei dem Waisenhause schon eingefahren sind.

Es gilt als ausgemachte Sache, dass die vor zwei Jahren erfolge Zuteilung des früheren Neckargemünder Amtes zu dem Bezirke Eberbach  fast von Niemandem gerne gesehen wurde und in der Tat eine Reihe von Mißständen im Gefolge hatte. Durch das Abhalten von Amtstagen in Neckargemünd sind diese Letzteren nicht auszugleichen. Schon oftmals wurden daher von Seiten der Amtsangehörigen Wünsche laut, dass eine Änderung eintreten, und wenn nicht eine förmliche Wiederherstellung des Amtes in Neckargemünd, doch wenigstens eine Zweckmäßigere Einteilung desselben in lokaler Beziehung stattfinden möge. Wie bereits auf dem vorigen Landtage, sollen auch auf dem bevorstehenden entsprechende Schritte zur Herbeiführung dieses Resultats geschehen.

Für die Abgebrannten in Neckarbischofsheim gehen viele Spenden ein. Es wird allgemein auf die Dringlichkeit einer Brandversicherung hingewiesen, nachdem es in den letzten Jahren in vielen Landgemeinden verheerende Brände gab.

Wir Lehrer des Lyceums versammelten uns am 18. November  um unseren Direktor Herrn Hofrat Hautz, welcher vor 40 Jahren vom höchstseeligen Großherzog Ludwig an das damalige Gymnasium dahier berufen worden ist.

Balzfeld. Bezirksamt Wiesloch. Aus der hiesigen Verlassenschaftsamasse des Alt-Kronrnwirts Joseph Reißfelder werden in dessen Behausung, Vormittags, 9 Uhr anfangend, versteigert, und zwar: am Montag, den 28. Nov. 2 Pferde, 1 Stutenfüllen, 3 Kühe, 3 Kalbin, 2 Mutterschweine, Gänse und Hühner, ca. 10 Malter altes und 37 Malter neuer Spelz, ca. 3 Malter altes und 4 Malter neues Kor, ca. 12 Malter Gerste, a. 24 Malter Hafer, etwas Einkorn, Klee-, Mohn- und Hanfsamen, bohnen und Wicken, ca. 150 Centner Heu, Ohmed und 60 Ctr. Kleeheu, verschiedenes Stroh, ca. 100 malter Grundbirnen, 250 Ctr. Dickrüben, ca 3 Ohm 1857r und 3 Ohm 1859r Wein, ca. 2 Centner Hanf, circa 33 Ohm Faß- und Bandgeschirr. Am Dienstag, den 29. d.M., Mannskleider, Bettung, Weißzeug, Schreinwerk sc. Am Mittwoch, den 30.d.M. Fuhr-, Feld-, Hand- und Zinngeschirr, kirschbaumene und forlene Borde und verschiedener sonstiger Hausrath.

So viel für diesen Monat.

Ich grüße dich.

Anton“

(9) Liebe Luise, Heidelberg den 15.Dezember 1859

Wo war ich im letzten Brief stehen geblieben? Ach ja, die erste Begegnung mit Lobenstein. Ich erblickte ihn zuerst in einer grünen Pelzmütze, blauem Brusttuch nebst einer einer schwarzen Schürze, seiner gewöhnlichen Hauskleidung. Es war mir gleich beim ersten Blick, als ob ich in ihm einen strengen Herrn und Meister statt eines künftigen Freundes und Wohltäters gefunden hätte. Meine vorgefasste Liebe erlosch, als wenn Wasser auf einen Funken geschüttet wäre, da mich die erste kalte, trockene, gebieterische Miene meines vermeintlichen Wohltäters ahnen ließ, dass ich nichts weiter als sein Lehrjunge sein würde.

Die wenigen Tage über, die mein Vater da blieb, wurde noch einige Schonung gegen mich beachtet. Allein sobald mein Vater abgereist war, musste ich ebenso wie der andere Lehrbursch in der Werkstatt arbeiten. Ich wurde zu den niedrigsten Beschäftigungen gebraucht, ich musste Holz spalten, Wasser tragen und die Werkstatt auskehren. Ich stellte mir vor in einem Tempel Dienst zu tun und verlieh so allem eine gewisse Würde. Mein immer geschäftige Einbildungskraft belebte das Leblose um mich her und machte es zu wirklichen Wesen, mit denen ich umging und sprach. Überdem machte mir der ordentliche Gang der Geschäfte, den ich hier bemerkte, eine Art von angenehmer Empfindung, so dass ich gern ein Rad in dieser Maschine mit war, die sich so ordentlich bewegten, denn in Mönchzell hatte ich nichts dergleichen gekannt.

Gleich hinter der Werkstatt floss der Neckar auf welchem ein Vorsprung von Brettern zum Wasserschöpfen hin ausgebaut war.

Der Hutmacher Lobenstein hielt wirklich sehr auf Ordnung in seinem Hause, und alles ging hier auf den Glockenschal: Arbeiten, Essen und Schlafen.

Wenn je eine Ausnahme gemacht wurde, so war es in Ansehung des Schlafs, der freilich ausfallen musste, wenn des Nachts gearbeitet wurde, welches denn wöchentlich wenigstens einmal geschah. Sonst war das Mittagsessen immer auf den Schlag zwölf, das Frühstück morgens und das Abendbrot abends um acht Uhr pünktlich da. So verfloss damals mein Leben. Wenn der Reiz des Frühstücks und des Mittags- und Abendessens nicht mehr hinlänglich war, die Lebens- und Arbeitslust zu erhalten, dann zählte ich, wie lange es noch bis auf den Sonntag war, wo man einen ganzen Tag von der Arbeit feiern und einmal aus der dunklen Werkstatt vors Tor hinaus in das freie Neckarfeld gehen und des des Anblicks der offenen freien Natur genießen konnte. O welche Reize hat der Sonntag für den Handwerksburschen, die den höheren Klassen von Menschen unbekannt ist, welche von ihren Geschäften ausruhen können, wann sie wollen.

Herr Lobenstein konnte zuweilen stundenlang Strafpredigten gegen das ganze menschliche Geschlecht halte. Mit einer sanften Bewegung der rechten Hand teilte er dann Segen und Verdammnis aus. Seine Miene sollte dabei mitleidsvoll sein, aber die Intoleranz und der Menschenhass hatten sich zwischen seinen schwarzen Augenbrauen abgelagert.

Die Nutzanwendung lief dann immer darauf hinaus, dass er seine Leute zum Eifer und zur Treue – in seinem Dienste – ermahnte, wenn sie nicht ewig im höllischen Feuer brennen wollten. Wir konnten ihm nie genug arbeiten – und er machte ein Kreuz über das Brot und die Butter, wenn er ausging.

Mir verbitterte er mein Mittagsessen durch tausend wiederholte Lehren, die er mir gab, wie ich das Messer und Gabel halten und die Speise zum Mund führen sollte, dass mir oft alle Lust am Essen verging, bis sich der Geselle einmal nachdrücklich meiner Annahm und ich nun doch in Frieden essen konnte.

Übrigens aber durfte ich es auch nicht wagen nur einen Laut von mir zu geben, denn an allem was  ich sagte, an meinen Mienen, an meinen kleinsten Bewegungen fand Lobenstein immer etwas auszusetzen. Nichts konnte ich ihm zum Danke machen, so dass ich mich beinahe in seiner Gegenwart zu gehen fürchtete, weil Lobenstein an jedem Tritt etwas zu tadeln fand.

Ein Zufall verbesserte meine Lage in etwas. Davon im nächsten Brief mehr. Dann auch die für dich gesammelten Nachrichten. Ich bin heute Abend zu Gast bei einer angesehenen Heidelberger Familie und ich möchte die gütigen Eltern samt den freundlichen Töchtern nicht warten lassen.

Liebe Grüße nach Mönchzell

Anton

 

(10) Liebe Luise, Heidelberg

Zuerst zu dem Zufall, der meine Lage in etwas verbesserte, dann die Nachrichten.

Der Hutmacher Lobenstein war ein äußerst hypochondrischer Schwärmer. Er glaubte an Ahndungen und hatte Visionen, die ihm Furcht und Grauen erweckten. Eine alte Frau, die zur Miete im Hause gewohnt hatte, starb und erschien ihm bei nächtlicher Weile im Traume, dass er oft mit Schaudern und Entsetzen erwachte. Und weil er dann wachend noch fortträumte, auch ihren Schatten in irgendeiner Ecke seiner Kammer noch zu sehen glaubte. Ich musste ihm von nun an zur Gesellschaft sein und in einem Bette neben ihm schlafen. Dadurch wurde ich ihm gewissermaßen zum Bedürfnis und er wurde etwas gütlicher gegen mich gesinnt. Er ließ sich  oft mit mir in Unterredungen ein, fragte mich, wie ich in meinem Herzen mit Gott stehe, und lehrte mich, dass ich mich Gott nur ganz hingeben solle.

Des Abends musste ich, ehe ich zu Bette ging, für mich stehend leise beten, und das Gebet durfte auch nicht allzu kurz sein. Sonst fragte Lobenstein mich, ob ich denn schon fertig sei und Gott nichts mehr zu sagen habe. Dies war für mich eine neue Veranlassung zur Heuchelei und Verstellung, die sonst meiner Natur ganz entgegen war.

Ich bekam nun auch eine schwarze Schürze wie der andere Lehrbursche, was zu meiner Zufriedenheit beitrug. Die Schürze brachte mich gleichsam in Reih und Glied mit andern meinesgleichen. Ich begann an den Handwerksgebräuchen eine Art von Gefallen zu finden. Ich freute mich innerlich, so oft ich den Gruß eines einwandernden Gesellen hörte, der das gewöhnliche Geschenk zu fordern kam. Keine größere Glückseligkeit konnte ich mir denken, als wenn auch ich einmal als Geselle so einwandern und dann, nach Handwerksbrauch, den Gruß mit den vorgeschriebenen Worten hersagen würde.

So hängt das jugendliche Gemüt immer mehr an den Zeichen als an der Sache, und es lässt sich von den frühen Äußerungen bei Kindern, in Ansehung der Wahl ihres künftigen Berufes, wenig oder gar nichts schließen.

Sobald ich lesen gelernt hatte, hatte ich ein unbeschreibliches Vergnügen darin, in die Kirche zu gehen. Meine Mutter und meine Base konnten sich nicht genug darüber freuen. Was mich aber in die Kirche trieb, war der Triumph, den ich allemal genoss, wenn ich nach dem schwarzen Brette, wo die Nummern der Gesänge angeschrieben waren, hinsehen und etwa einem erwachsenen Menschen, der neben mir stand, sagen konnte, was es für eine Nummer sei. Und wenn ich dann ebenso und oft noch geschwinder als erwachsene Leute diese Nummern in meinem Gesangbuche aufschlagen und mitsingen konnte.

Die Zuneigung des Herrn Lobenstein gegen mich schien jetzt immer größer zu werden, je mehr ich nach geistlicher Führung ein Verlangen bezeigte. Er ließ mich oft bis um Mitternacht an den Gesprächen mit seinen vertrautesten Freunden teilnehmen, mit denen er sich gemeiniglich über seine und anderer Erscheinungen zu unterhalten pflegte, welche zuweilen so schaudervoll waren, dass ich mit berganstehenden Haaren zuhorchte. Gemeiniglich wurde erst spät zu Bett gegangen. Und wenn der Abend mit solchen Gesprächen zugebracht war, so pflegte Lobenstein am folgenden Morgen beim Aufstehen wohl zu fragen, ob ich die Nacht nichts vernommen hätte, nichts in der Kammer gehen gehört habe?

Manchmal unterhielt sich Lobenstein des Abends auch mit mir allein und wir lasen dann zusammen etwas in den Schriften Taulers, Johannes von Kreuz und ähnlichen Büchern. Es schien, als ob zwischen uns eine dauerhafte Freundschaft entstehen würde. Ich fasste auch wirklich eine Art von Liebe gegen Lobenstein, aber diese Empfindung war immer mit etwas Herben untermischt, mit einem gewissen Gefühl von Ertötung und Vernichtung, welches durch Lobensteins bittersüßes Lächeln erzeugt wurde.

Indes blieb ich jetzt von harten und niedrigen Arbeiten mehr als sonst verschont. Lobenstein ging zuweilen mit mir spazieren. Ja er nahm mir sogar einen Klaviermeister an. Ich war entzückt über meinen Zustand und schrieb einen Brief nach Mönchzell, worin ich meinem Vater auf das Lebhafteste meine Zufriedenheit bezeigte.

Nun hatte aber mein Glück im Lobensteinschen Hause den höchsten Gipfel erreicht und mein Fall war nahe. Davon mehr im nächsten Brief, liebe Luise.

Nun noch die von dir sicher schon erwarteten gesammelten Nachrichten:

Zuallererst eine kleine, aber süße Nachricht: Hier in Heidelberg gibt es in der Kettengasse jetzt alle Sorten Chocolade. Vanille-, Gesundheits- und Gewürz-Chocolade. Ich werde Dir beim nächsten Besuch in Mönchzell eine Vanille-Chocolade mitbringen. Eine Köstlichkeit.

Vom 12. Dez. bis zum 18. Dauerte die vierteljährliche Schwurgerichtssitzung zu Bruchsal . Sie umfasste 6 Fälle darunter als letzter Fall die Anklage gegen den Kanonier Philipp Männ von Baierthal, Amtsgerichts Wiesloch, wegen Mord.[22] Sie betrifft jenen schrecklichen Fall, welcher im vorigen Sommer zu Karlsruhe so großes Aufsehen machte. Am Samtstag, den 17. Dezember, Nachmittags 4 Uhr 40 Minute, ist er von dem Schwurgericht wegen Mords zum Tode verurteilt worden.

In Gaiberg und Wiesloch wurde die Jagd versteigert.

Die Zahl der Arbeiter an der Heidelberger Eisenbahn um den südlichen Teil der Stadt hat dermalen die Zahl 500 weit überstiegen.

Die Gitterbrücke bei Obrigheim wird 90 Fuß über dem Neckar in schräger Richtung gebaut.

Schon wieder ein Unglücksfall in Heidelberg. Ein Butterbrot, aus Unvorsichtigkeit mit Phosphor bestrichen, der vom Sohne zur Vergiftung der Mäuse nach Hause gebracht worden war, brachte der Mutter den Tod.

In der Frühe des 21. Dezember trieb das Eis im Neckar noch abwärts. Allein seit 10 Uhr hatte sich dasselbe gestellt und der Fluss bot nur noch eine Eisdecke. Zwei Tag später war der Neckar aber wieder befahrbar.

Wie Du weißt, wird das großherzogliche Recht auf Bestätigung bei der Besetzung von Kirchenstellen vom Heiligen Stuhl seit Jahren nicht mehr anerkannt. Die Befugnisse der Kirche zur Besetzung der Pfarrstellen wurden jetzt erheblich ausgeweitet. Die Großherzogliche Staatsregierung und der päpstliche Stuhl haben eine Konvention getroffen, wonach bestimmte Pfarreien von Seiten des Großherzogs und andere von Seiten des Erzbischofs zu vergeben sind. Seine Königliche Hoheit der Großherzog vergibt im Dekanate Heidelberg die Pfarrstelle in Wiesenbach und im Dekanate Waisbstadt die Pfarrstellen in Balzfeld, Dielheim, Mauer, Mühlhausen, Neunkirchen, Spechbach, Waibstadt und Zuzenhausen. Der Erzbischof vergibt im Dekanat Heidelberg die Pfarrstellen von Dilsberg, Neckargemünd, Nußloch, Walldorf und Ziegelhausen, im Dekanate St. Leon die Pfarrstellen Rauenberg (Pfarr.) und Rauenberg (Benefiz.).[23]

Auch wird die mit Beschlag belegte Druckschrift „An unsere katholischen Mitbürger“ nach Mitteilung des Großherzoglichen Staatsanwalts am Hofgerichte unseres Unterrheinkreises nicht gerichtlich verfolgt werden, und daher die Zurücknahme der mit Beschlag belegten Abdrücke verfügt.

Das Großherzogliche Oberamt Heidelberg machte schließlich bekannt, dass das Geschenksammlen am Neujahrstage, wie dies namentlich von Kaminfegergesellen, Nachtwächtern, Laternenanzündern unter der Form des Glückwunsches zum neuen Jahr geübt zu werden pflegt, verboten sei.

So wünsche ich Dir ein Gutes Neues Jahr 1860.

Anton

 

(11) Liebe Luise, (ohne Datum, wohl Dez. 1858 bis Juni 1959)

Endlich bin ich dazu gekommen, die für dich gesammelten Nachrichten der letzten Monate abzuschließen. Darunter auch die Nachrichten über die Mönchzeller Schulhausreparatur und die Reparatur der Friedhofsmauer.

In dem nahen Dorfe Dossenheim wurden einem dortigen Landwirt unter dem Vorwande des Geisterbannens 200 fl. Nebst einem Mantel im Wert von 30 fl. Abgeschwindelt. Bei dem Geprellten übernachtete nämlich ein vagabundierender Taugenichts, der Erstern so treuherzig zu machen wusste, dass ihm derselbe gestattet, einen Geist, den der Gauner in des Landwirts Scheue gesehen haben wollte, zu erlösen, um den dort befindlichen Schatz zu heben. Dazu bedurfte natürlich der Wundermann 200. Fl (Gulden), die er in einem mit Erde gefüllten Topf legte, solchen an der Stelle vergrub, woselbst er den Geist gesehen hatte, dem guten Landmann befahl, sei Mirakulum während 7 Tagen und Nächten nicht anzurühren, bis wohin er zurückkehren werde, und des Bauern neuen Mantel mitnahm, da es gerade regnete. Aber, wie selbstverständlich, kam der Geisterbanner nicht wieder, und so wurde denn, nachdem man lange genug gewartet hatte, zur Enthüllung des Wunderwerks geschritten, das aber nicht die dahin gelegten 200 fl., sondern nur mit Sand gefüllte Papierrollen enthielt. [24]

Von 22 Rechtskandidaten welche sich im Spätjahre 1858 der ersten juristischen Staatsprüfung unerzogen haben, sind 14 unter die Zahl der Rechtspraktikanten aufgenommen worden, darunter auch August Wagner von Meckesheim und Emil Fieser von Sinsheim.[25]

Eine der großartigsten Erfindungen der Gegenwart dürfte gewiss der elektrische Telegraph genannt werden. Obwohl wie bei allen deutschen Erfindungen denselben vom Ausland stets die Ehre streitig gemacht wurde, so waren es hier ebenfalls wieder England und Frankreich, die diese Erfindung beharrlich für die ihrige beanspruchten.

Am 10. Januar 1858 traf die Nachricht hier ein, dass die Zuckerfabrik Waghäusel abgebrannt sei. Der Schaden beträgt ½ Million Gulden.

Die sehr schön geprägten österreichischen Neugulden kommen für die kurze Zeit ihres Erscheinens schon auffallend häufig im Verkehr vor und werden sowohl von Privaten als auch, so viel ich weiß, an den öffentlichen Kassen gern angenommen. Nur bei der Eisenbahn werden sie zurückgewiesen, was recht störend ist, da man von den Zwanzigern und Zehnern her gewöhnt ist, dass das österreichische Silbergeld überall Geltung hat[26].

In Lobenfeld wurd auf Donnerstag, den 17. Februar 1859, Vormittags 10 Uhr, eine Versteigerung beim steinernen Tisch vom Distrikt Hohlebuch von 148 Stämmen fichten und lärchen Bauholz, 254 Leiterstangen, 17 ¼ Klafter gemischtes Prügelholz, und Freitag, den 18. Februar Vormittags 10 Uhr, bei Bürgermeister Frei in Lobenfeld die Versteigerung von 173 ¾ Klafter buchen Scheitholz, 83 Klafter eichen Scheitholz, 64 Klafter buchen Prügelholz, 27 Klafter eichen Prügelholz, am gleichen Tage Nachmittags 5175 Stück buchen Wellen, 1000 Stück eichene Wellen, Samstag, den 19. Februar, Vormittags 10 Uhr, auf der Hiebstelle die Versteigerung von 103 Eichstämmen zu Schiffbau- und Nutzholz, darunter mehrere Holländer[27].

Es ist nach wie vor so, dass Leichen neugeborener Kinder überall gefunden werden. Es dürften meist die Kinder von Dienstmädchen sein.

Die Wiesenbacher Bezirksforstei ließ am 21. Februar 1859 im Gasthaus zum Hirsch in Waldwimmersbach Holz versteigern[28].

Während des Jahres 1858 haben im Unterrheinkreise 80 Personen durch Unglücksfälle das Leben eingebüßt, nämlich 23 durch Ertrinken, 20 surch Sturz, 6 durch Ersticken, 6 beim Baumfällen, 5 durch Verbrennen, 5 durch Verschütten, 5 durch Ueberfahren, 3 durch Erfrieren, 3 durch Erdrücken, 2 durch Erschießen und 2 durch Überschütten mit heißer Flüssigkeit[29].

Donnerstag, den 24. Februar fand im Eschelbronner Gemeinde-Bründelswald – am Weg nach Meckesheim eine Holzversteigerung statt[30].

In Wiesenbach fand am 3. Und 4. März eine Holzversteigerung statt, am ersten Tage im Gasthause zur Krone, am zweiten Tage in der Post in Wiesenbach[31].

Die Schaffnerei Lobenfeld hat am Donnerstag, den 10. März im Gasthaus zum Adler in Waldwimmersbach Holz versteigert[32].

Die Gemeinde Meckesheim, Amts Eberbach, ließ Donnerstag, den 24. März 1859 vormittags 10 uhr Auf dortigem Rathause folgende Reparatur-Arbeiten am evangelischen Schulhause dort vorsteigern. 1. Maurerarbeit veranschlagt zu 1478 fl. 31 kr., 2. Steinhaurerarbeit. 3. Zimmerarbeit, 4. Schreinerarbeit, 5. Glaserarbeit, 7. Tünchnerarbeit, 8. Blechnerarbeit, 9. Schieferdeckerarbeit, 10. Pflasterarbeit[33].

Der Phillip Hack von Reichartshausen wurde am 1. April 1859 wegen fahrlässiger Tötung vom Mannheimer Schwurgericht zu einem Jahr Kreisgefängnisstrafe verurteilt. Er fuhr abends am 22. November 1859 wie das Opfer Georg Matthias Schmitt von Flinsbach jeder in einem leeren Wagen mit zwei Pferden. Hack von Neckargemünd, Schmitt von Mannheim heimkehrend auf der Chausee zwischen Wiesenbach und Wimmersbach. Der vorausfahrende Schmitt war allein, bei dem Angeklagten befand sich der Bäckergeselle Philipp Adam Schilling, den jener eingeladen hatte, das Fuhrwerk zur Heimfahrt nach Reichartshausen zu nuten. Eine Strecke hinter Wiesenbach versuchte der Angeklagte dem Schmitt vorzufahren, was dieser aber mehmals durch eine Wendung seiner Pferde vereitelte. Der Angeklagte, hierdurch gereizt, überließ mit den Worten: „er wolle einmal den da vornen ausweichen lehren“, dem Schilling die Zügel und stieg von seinem Wagen auf denjeniges des Schmitt. Dort entspann sich zwischen beiden ein Kampf, in Folge dessen Schmitt rücklings zum vorderen Teil des Wagens über die Wage hinab auf die Chaussee fiel und betäubt liegen blieb. Der Angeklagte kümmerte sich nicht weiter um ihn, bestieg wieder seinen Wagen und fuhr mit Schilling, dem er die Zügel ließ, auf dem Wagen des Schmitt vorbei nach Hause. Zwei Postillone fanden den Betäubten und rüttelten ihn wach. Er ging zu Fuß nach Wimmersbach in das Hirschwirtshaus, wohin die Postillone das unterwegs getroffene Fuhrwerk des Schmitt gebracht hatten. Dort dachte man er sei betrunken, fuhr aber mit dem Fuhrwerk aus Wimmersbach hinaus. Gegen zwei Uhr traf er in bewußtlosem Zustand zu Hause ein; morgens um 7 Uhr war er eine Leiche[34].

In Muckenloch, Amts Erberbach, wurde am Freitag, den 8.April 1859 im katholischen Schulhause die Aufführung einer Stück Mauer an der Umfassungsmauer des alten Friedhofest im Überschlag zu 124 fl.  Öffentlich versteigert, wie Pfarrer Burbach als Stiftungsvorstand bekanntgab.

Schon am 24. März 1859 wurde in Neuenheim bei Heidelberg der erste Spargel in einem Weinberg gestochen.

In Rauenberg wurde am 18. April 1859 das Gasthaus zum Hirsch samt Gütern aus der Gantmasse der verlebten Hirschwirth Schneiders Ehefrau Theresia geborene Hädel von Rauenberg  versteigert.

Vom 30. April bis 8. Mai 1859 ist in dem zum Amtsbezirke Eberbach gehörigen Orte Spechbach eine Mission durch drei Patres aus dem Jesuitenorden abgehalten worden. [35]

Mönchzell, Bezirksamt Eberbach. Das hießige Bürgermeisteramt lässt Mittoch, den 1. Juni laufenden Jahres, nachmittags 1 Uhr, die Reparaturarbeiten am evangelischen Schulhause, die Maurerarbeiten zu 56 fl. 38 kr., und die Zimmerarbeit zu 41 fl. Veranschlagt, die Maurerarbeiten am Friedhof zu 56 fl. 59 kr, versteigern. [36]

Die Gemeinde Haag hat am 7. Juni 1859 den Neubau eines evangelischen Schulhauses an den Meistbietenden öffentlich versteigert.[37]

 

(12) Liebe Luise, Heidelberg, den 31.1.1860

im Lobensteinschen Hause sahen mich alle mit neidischen Augen an, seitdem mir der Klavierlehrer gehalten wurde. Es wurden jetzt Kabalen wie an einem kleinen Hofe gespielt; man verleumdete mich, man suchte mich zu stürzen.

So lange Lobenstein gegen mich hart und unbillig verfahren war, genoss ich das Mitleid und die Freundschaft aller übrigen Hausgenossen. Sobald es aber schien, als ob Lobenstein mir seine Freundschaft und Vertrauen zuwenden würde, nahm in eben diesem Maße ihre Freundschaft und Misstrauen gegen mich zu.  Und sobald es ihnen gelungen war, mich wieder zu sich herunterzubringen, und man es so weit gebracht hatte, dass der Klaviermeister wieder abgedankt war, hatte man auch weiter nichts mehr gegen mich. Man war mein Freund wie zuvor.

Nun hielt es aber nicht schwer, mich der Gewogenheit eines so argwöhnischen und misstrauischen Mannes, wie Lobenstein war, zu berauben. Man durfte nur einige lebhafte Äußerungen von mir erzählen, man durfte Herrn Lobenstein nur auf verschiedene wirklich Fehler der Nachlässigkeit und Unordnung, die ich an mir hatte, bei  jeder Gelegenheit aufmerksam machen, um seinen Gesinnungen bald eine andere Richtung zu geben. Dies wurde denn von der Haushälterin und den übrigen Untergebenen sehr gewissenhaft getan.

Indes dauerte es doch einige Monate, ehe man völlig seinen Zweck erreichte. Während welcher Zeit Lobenstein sogar meinen Klaviermeister zu bekehren sich Mühe gab, welcher ein sehr rechtschaffner und frommer Mann war, aber Herrn Lobensteins Meinung nach sich Gott noch nicht ganz hingegeben hatte und sich nicht leidend genug gegen ihn verhielt.

Ich hatte überdies nicht viel Genie zur Musik und lernte folglich nicht viel in meinen Stunden. Ein paar Arien und Choräle waren alles, was ich mit vieler Mühe fassen konnte. Und die Klavierstunde war mir immer eine sehr unangenehme Stunde. Auch wurde mir die Applikatur (= Fingersatz beim Klavierspielen) sehr schwer, und Lobenstein fand immer an der Figur meiner weit ausgespreiteten Finger etwas auszusetzen.

Indes gelang es mir doch einmal, wie dem David beim Saul, den bösen Geist des Herrn Lobenstein durch die Kraft der Musik zu vertreiben. Ich hatte ein kleines Versehen begangen, und weil die Neigung des Herrn Lobenstein gegen mich schon anfing, sich in Hass zu verwandeln, so hatte dieser mir des Abends vor dem Schlafengehen eine harte Züchtigung dafür zugedacht. Ich merkte dies an allem wohl. Und als die Stunde heranzunahen schien, fasste ich den Mut, einen Choral, den ersten, den ich gelernt hatte, auf dem Klavier zu spielen und dazu zu singen. Dies überraschte Herrn Lobenstein, er gestand mit, dass gerade diese Stunde zu einer nachdrücklichen Bestrafung bestimmt gewesen wäre, die er mir nun schenkte.

Ich erdreistete mich sogar, ihm einige Vorstellungen wegen der anscheinenden Abnahme seiner Freundschaft und Liebe gegen mich zu tun, worauf Lobenstein mir gestand, dass seine Zuneigung gegen mich freilich so stark nicht mehr sei, und dass dieses notwendig an meinem verschlimmerten Seelenzustande liegen müsse, wodurch gleichsam eine Scheidewand zwischen ihm und seiner ehemaligen Liebe gezogen wäre. Er habe die Sache Gott im Gebet vorgetragen und diesen Aufschluss darüber erhalten.

Dies war nun sehr traurig für mich und ich fragte, wie es denn anzufangen habe, um meinem verschlimmerten Seelenzustand wieder zu verbessern.

Seinen Weg in Einfalt zu wandeln und sich Gott ganz zu überlassen, war die Antwort, sei das einzige Mittel, seine Seele zu retten.

Weiter wurden keine Anweisungen erteilt. Herr Lobenstein hielt es nicht für gut, Gott gleichsam vorzugreifen, der sich selber von mir abgezogen zu haben schien.

Die nachdrücklich ausgesprochenen Worte aber, seinen „Weg in Einfalt zu wandeln“, hatten darauf Bezug, dass ich ihm seit einiger Zeit zu klug zu werden anfing, zu viel sprach und vernünftelte und überhaupt wegen der Zufriedenheit mit meinem Zustand zu lebhaft wurde.

Diese Lebhaftigkeit war nun der gerade Weg zu meinem Verderben, der ich nach dieser Heiterkeit in meinem Gesicht notwendig ein ruchloser, weltlich gesinnter Mensch werden musste, von dem nach Lobensteins Ansicht nichts anderes zu vermuten stand, als dass Gott selbst mich in meinen Sünden dahingeben würde.

Die Sache war Lobenstein so wichtig gewesen, dass er darüber mit dem Herrn von Karneppy korrespondiert hatte. Und nun zeigte er mir wiederum in dem Briefe des Herrn von Karneppy eine Stelle, die mich betraf; und worin der Herrn von Karneppy versicherte, allen Kennzeichen nach „habe der Satan seinen Tempel in meinem Herzen schon so weit aufgebauet, dass er schwerlich wieder zerstört werden könne.“

Das war wirklich ein Donnerschlag für mich, aber ich prüfte mich und verglich meinen jetzigen Zustand mit dem vorhergehenden, und es war mir nicht möglich, irgendeinen Unterschied dazwischen zu entdecken. Ich fing an der Wahrheit des Orakelspruchs von dem Herrn von Karneppy an zu zweifeln.

Dadurch verlor sich meine Niedergeschlagenheit wieder, die mir sonst vielleicht auf neue den Weg zu der Gunst des Herrn Lobenstein würde gebahnt haben. Im nächsten Brief werde ich dir schildern, wir ich mir Lobensteins Freundschaft durch meine fortgesetzten vergnügten Mienen vollends verscherzte.

Nun wieder die von dir schon sicher begierig erwarteten Nachrichten  rund um Heidelberg.

Die Konvention mit Rom wird nicht ohne Folge auch für das Volkschulwesen unseres Landes bleiben. Hat sich auch der Staat die Leitung desselben vorbehalten, so ist doch der Kirche ein mächtiger Einfluss eingeräumt, namentlich da den Geistlichen als solchen die Aufsicht über die Schulen auch ferner übertragen bleibt und kein Schulbuch ohne Genehmigung des Erzbischofs in den katholischen Unterrichtsanstalten unseres Landes eingeführt werden darf.

In Schatthausen wurden am Mittwoch, den 11. Januar 1860 im dortigen Gemeindewald 4 Eichstämme versteigert.

Am Abend des 2. Januar versammelten sich abends gegen 7 Uhr in dem Heidelberger Gasthause zum „Holländischen Hofe“ über 200 Personen, wo zwei berühmte Juristen Petitionen verlasen, welche gegen das von der badischen großherzoglichen Regierung mit dem päpstlichen Stuhle abgeschlossene Konkordat gerichtet waren und den Landständen überreicht werden sollen. Alle Anwesenden unterschrieben es und es sollen noch zahlreiche Unterschriften nachfolgen. Ein zweiter Teil dieser Petitionen betraf die Einführung der Zivilehe. Ein würdiger Bürger unserer Stadt, Hr. N., erhob sich nach Verlesung der Petitionen und forderte die zahlreiche Versammlung in kurzer, aber gediegener Rede auf, den Herrn Verfassern durch Aufstehen ihren Dank für die gehaltvolle, das Wohl des Landes betreffende Arbeit darzubringen. Wie auf einen Zauberschlag erhob sich die ganze Versammlung und brachte durch ein Hoch den Verfassern ihren tiefgefühlten Dank. Die in dem Konkordate enthaltenen Bestimmungen über das Eherecht, sind ja von größtem Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Das Eherecht darf nur auf dem Wege der Gesetzgebung abgeändert werden. Jeder Eingriff in die bestehenden rechtsgültigen Bestimmungen führt hier zu rechtloser Willkür und bodenloser Verwirrung. Gleichwohl verfährt die katholische Partei aller Orten im Großherzogtum bereits so, als ob es kein staatliches Eherecht im Lande mehr gebe, als ob die kanonischen Ehegesetze alleinige Gültigkeit und Verbindlichkeit hätten. Die katholischen Geistlichen bleiben auch nach dem Konkordat staatliche Matrimonialbeamte (Heiratsbeamte). Kein evangelischer Pfarrer darf eine Ehe, in welcher der eine Theil der katholischen Kirche angehört, trauen, ohne Dimissoriale (= Entlasschein) des katholischen Pfarrers. Nicht nur verweigern die katholischen Pfarrer auf höhern Befehl gegenwärtig den Evangelischen bei Trauungsgesuchen von gemischten Brautpaaren unbedingt die Dimissorialien, sondern sie verweigern auch gemischten Brautpaaren schlechterdings die Trauung, wenn diese nicht vorher auf die evangelische Trauung verzichten. Entschließt sich ein solches Brautpaar, um diesen Plackereien zu entgehen, lediglich zur evangelischen Trauung, so darf der evangelische Pfarrer bei schwerer Verantwortung die Trauung nicht vollziehen, weil er das vom Staatsgesetz geforderte Dimissoriale des katholichen Pfarrers nicht beizubringen vermag! Auf diese Weise wird der evangelische Teil in gemischten Ehen jeder Einwirkung der evangelischen Kirche entzogen, und da der katholische Geistliche nur traut unter dem Versprechen, der katholischen Kindererziehung, so gehen alle Kinder in gemischten Ehen der evangelischen Kirche verloren. Und das mit Hülfe des Staatsgesetzes, um welches der katholische Klerus, auf die Konvention gestützt, sich nicht mehr kümmert, und welches die evangelische Geistlichkeit, wenn sie Trauungen ohne Dimissorialien vollzieht, mit schwerer Strafe bedroht! Will man es denn unter diesen Umständen den Protestanten verargen, wenn sie sich durch den gesetzwidrigen Vollzug der Konvention in ihren tiefsten Interessen verletzt sehen, und wenn die Erregtheit der Gemüther nicht im Abnehmen begriffen ist?[38]

In Lobenfeld[39] wurden Freitag, den 13. Januar 1860, morgens 9 Uhr auf dem dortigen Rathszimmer 17 ¾ Klafter buchen Scheit- und Prügelholz, 2650 Stück buchene Wellen, 3 Eichstämme, 295 T. an Maaß, versteigert. Montag, den 16. Januar wurden im Gasthaus zum Hirsch in Waldwimmersbach 56 fichtene Baumholzstämme, 250 fichtene Leiterstangen und weiter Scheit- und Prügelholz und 875 Stück Wellen versteigert.[40]

In Lobenfeld[41] ließ die Gemeinde am Freitag, den 13. Januar 1860, die Lobenfelder Gemeinde das katholische Schulhaus zum Abbruch mit Überlassung des Materials versteigern.

Am Dienstag[42], den 10. Januar 1860 ließ die Gemeinde Lobenfeld die Herstellung des Vicinalweges von Haag nach Neckarhausen an die Wenigstnehmenden in einzelnen Loosen an Ort und Stelle bei der sogenannte Sauplatzwiese versteigern. Der Kostenaufwand beträgt nach dem Überschlag im Ganzen 1393 f. 40 kr., für Herstellung einer neuen Quaderbrücke 414 fl. 17 kr. Und für die neue Weganlage 610 fl, 20 kr.

Das Schießen in der Neujahrsnacht hat mehrere Unglücksfälle zur Folge gehabt, indem sich in den Orten Eppelheim und Nußloch junge Leute die Finger abgeschossen und in Sandhausen ein junger Mensch durch einen Schuss ins Gesicht getroffen wurde.

 

 

In Folge fortgesetzter Schürfversuche ist es gelungen in Sinsheim Steinkohlen zu entdecken; bis jetzt ist die sogenannte Glanzkohle zu Tage gefördert worden, welche indessen so viel Brennstoff enthält, dass sich wohl der Mühe lohnen dürfte, die Versuche fortzusetzen.

In Wiesenbach[43] wurden Montag, den 16. Januar 1860 nachstehende ärarische (= fiskalische) Jagden auf dem Wiesenbacher Rathaus auf weitere 9 Jahre, vom 1. Februar 1860 anfangend, verpachtet, und zwar Distrikt Judenwald mit 357 Morgen, Distrikt Heiden mit 435 Morgen, Distrikt hohenerd, Epfenberg und Neckarhalde mit 821 Morgen, Distrikt Hellmuth nebst dem anstoßenden ärarischen Felde, mit 474 Morgen, Distrikt Poberg mit 231 Morgen, die Wasserjagd auf dem Neckar vom Neckarhäuser Hof bis an die Heidelberger Gemarkungsgränze, in drei Loosabtheilungen.

Donnerstag, den 12. Januar 1860 wurde das Hiebsergebnis der Wiesenbacher[44] Distrikte Pohberg und Neckarhalden  in 5 Loosabtheilungn im Gasthaus zum Hirsch in Waldwimmersbach versteigert.

So viel für Heute.

Dein Anton

 

(13) Liebe Luise, Heidelberg den 2. März 1860

die erste Folge des Verscherzens meiner Freundschaft mit Lobenstein war, dass mich Lobenstein aus seiner Kammer entfernte und ich wieder bei  dem anderen Lehrburschen schlafen musste. Dieser fing nun an, wieder mein Freund zu werden, weil er mich nicht mehr beneidete. Die andere Folge war, dass ich wieder anfangen musste, mehr wie jemals die schwersten und niedrigsten Arbeiten zu verrichten, wobei ich immer in der Werkstatt bleiben musste und nur selten zu Hernn Lobenstein in die Stube kommen durfte. Der Klaviermeister wurde nur noch deswegen beibehalten, weil Lobenstein das angefangene Werk der Bekehrung in mir vollenden und also statt einer verlorenen Seele Gott wieder eine andere zuführen wollte.

Der Winter kam nach Heidelberg und jetzt fing mein Zustand wirklich an, hart zu werden. Ich musste Arbeiten verrichten, die meine Jahre und Kräfte weit überstiegen.  Lobenstein schien zu glauben, dass nun mit meiner Seele doch nichts weiter anzufangen sei, so müsse man wenigstens von meinem Körper allen möglichen Gebrauch machen. Er schien mich jetzt wie ein Werkzeug zu betrachten, das man wegwirft, wenn man es gebraucht hat.

Bald wurden meine Hände durch den Frost und die Arbeit zum Klavierspielen gänzlich untauglich gemacht. Ich musste fast alle Woche ein paarmal des Nachts mit dem anderen Lehrburschen aufbleiben, um die geschwärzten Hüte aus dem siedenden Färbekessel herauszuholen und sie dann unmittelbar darauf in dem vorbeifließenden Neckar zu waschen, wo zu dem Ende erst eine Öffnung in das Eis gehauen werden musste. Dieser oft wiederholte Übergang von der Hitze zum Frost, machte dass mir beide Hände aufsprangen und das Blut mir heraussprützte.

Allein statt dass dieses mich hätte niederschlagen sollen, erhob es vielmehr meinen Mut. Ich blickte mit einer Art von Stolz auf meine Hände und betrachtete die blutigen Merkmale daran als so viel Ehrenzeichen von meiner Arbeit; und so lange dieses harte Arbeiten noch für mich den Reiz der Neuheit hatte, mache sie mir eine gewisses Vergnügen, das vorzüglich im Gefühl meiner körperlichen Kräfte bestand; zugleich gewährte sie mir eine Art von süßem Freiheitsgefühl, das ich bisher noch nicht gekannt hatte.

Lobenstein aber fing jetzt an, mich immer härter zu drücken: oft musste ich in der bittersten Kälte den ganzen Tag über in einer ungeheizten Stube Wolle kratzen. Dies war ein klüglich ausgesonnenes Mittel des Herrn Lobenstein, um meine Arbeitsamkeit zu mehren: denn wenn ich nicht vor Kälte umkommen wollte, so musste ich mich rühren so viel nur in meinen Kräften stand, dass mir Abends oft beide Arme wie gelähmt und doch Hände und Füße erfroren waren.

Diese Arbeit machte mir wegen ihrer ewigen Einförmigkeit mein Los am bittersten. Besonders, wenn manchmal meine Fantasie dabei nicht in Gang kommen wollte; war diese hingegen durch den schnelleren Umlauf des Bluts einmal in Bewegung geraten, so flossen mir die Stunden des Tages unbemerkt vorüber.

Ich schloss jetzt mit dem Lehrburschen August eine innige Freundschaft. Am allervertraulichsten wurden wir, wenn wir in der sogenannten Trockenstube saßen. Diese war ein in die Erde gemauertes, oben mit Backsteinen zugewölbtes Loch, worin gerade ein Mensch aufrecht stehen und ungefähr zwei Menschen sitzen konnten. In dieses Loch wurde ein großes Kohlenbecken gesetzt und an den Wänden umher die mit Scheidewasser bestrichnen Hasenfelle aufgehangen, deren Haar hier weichgebeizt wurde, um nachher zu den feinern Hüten als Zutat gebraucht zu werden.

Lobenstein war, wie der Herr von Karneppy und alle seine Anhänger, ein Separatist, der sich nicht zu Kirche und Abendmahl hielt. So war ich, solange Lobensteins Freundschaft dauerte in keine Kirche in Heidelberg gekommen. Jetzt nahm mich August, der zweite Lehbursche Sonntags mit in die Kirche und wir gingen immer in eine andere, weil ich ein Vergnügen daran fand, die verschiedenen Prediger nacheinander zu hören. Besonders begeistert war ich vom Prediger Paulmann in der Heiliggeistkirche. Als ich ihn das erste Mal gehört hatte, konnte ich es nicht erwarten ihn am nächsten Sonntag wieder zu hören. Ich zählte während der Arbeit Stunden und Minuten bis zum nächsten Sonntage. Dieser kam; und ist je ein unauslöschlicherer Eindruck auf meine Seele gemacht worden, so war es die Predigt, die ich an diesem Tage hörte. Davon will ich dir im nächsten Schreiben ausführlich berichten.

Hier wieder  – in mühsamer Treue – die Nachrichten, die dich so interessieren:

Am 29. Januar 1860, mittags ein Uhr verschied zu Nizza, mit den heiligen Sterbesakramenten verstehen, Ihre Kaiserliche Hoheit die Frau Großherzogin Stephanie von Baden im siebenzigsten Jahr. Höchstdieselbe war geboren am 28. August 1789 und mit Seiner Königlichen Hoheit dem Höchstseligen Großherzog Karl vermählt am 7. April 1806. Sie soll in der Fürstengruft zu Pforzheim den letzten Platz ausfüllen.

Das Großherzogliche Oberamt Heidelberg machte am 1.2.1860 bekannt, dass nach näherer Untersuchung die in jüngster Zeit zum Verkauf gekommenen Ballkleiderstoffe von hell grünem Tarlatan Arsenik enthalten und das Verfertigen sowie das Tragen derselben der Gesundheit schädlich ist, der Verkauf und das Tragen dieser Kleidungsstoffe daher bei Strafvermeidung bis auf weiteres verboten sei.

Das am 6. Februar 1860 erschienene Regierungsblatt Nr. enthält: I. Gesetz, die Trennung des Ortes Kleingemünd von der Gemeinde Neckargemünd und die Erhebung des ersteren Ortes zu einer selbstständigen Gemeinde betreffend[45].

Am 4.2.1860 verkündeten  in Neckargemünd in der Frühe einige Freudenschüsse den Anfang der Bahnarbeiten zwischen den beiden Stationen Bammenthal und Neckargemünd.

Am 6. Februar fand in Heidelberg eine Versammlung der Mitglieder des landwirtschaftlichen Vereins des Unterrheinkr5eises statt, an welcher nahe 300 Landwirte teilnahmen. Die Besprechung begann mit der jährlichen Preisverteilung, wobei wir besonders eines wackeren Knechtes des Langenzeller Hofes erwähnen, der schon seit dem Jahre 1811 an ein und demselben Platze treu, redlich und arbeitsam diente und zum Lohne seines guten Verhaltens nebst einer Belobungsurkunde den ersten Geldpreis erhielt[46].

Vor einigen Tagen gingen elf Kinder aus Wolde an der mecklenburgisch-pommerschen Grenze nach dem nahen Kirchdorf Kastdorf zum Konfirmanden Unterricht und nahmen der Zeitersparnis halber über den gefrorenen See ihren Weg. Als sie schon ziemlich weit auf dem Eise waren, blieb eines von ihnen zurück um sich die Schuhriemen fester zu binden. Während dieser Beschäftigung hört es einen entsetzlichen Schrei und aufblickend gewahrt es von seinen Genossen – nichts. Der See hatte alle zehn verschlungen[47].

Die Bürger und Einwohner zu Eschelbronn haben wie unzählige andere auf der 26. Öffentlichen Sitzung der 2. Kammer der Stände unter dem Vorsitz des Präsidenten Junghans in Karlsruhe eine Eingabe gegen das Konkordat eingereicht[48]. Du weißt es ja. Die Gegner des Konkordats reichen Bittschriften bei der Kammer ein, seine Verteidiger richten Dankadressen an den Großherzog und benachrichtigten gleichzeitig die Kammer davon. Die Gegner werden sich auf die Zahl der Unterschriften berufen, die anderen auf die Zahl der Adressen, die nicht geringer sein wird, als die der katholischen Geistlichen im Lande.

In seinem Hirtenbrief für die bevorstehende Fastenzeit hat der Erzbischof in Freiburg zur Förderung des Seelenheils der Bistumsangehörigen verordnet, dass der Genuss von Fleischspeisen an Freitagen verboten, jedoch Reisenden, ganz Armen, dem Militär und Handwerksgeselle, welche bei Andersgläubigen Kost haben, erlaubt.

Aus Domänenwaldungen des Forstbezirks Wiesenbach wurden am 28.2.1860 Eiche, Buche, Birke , Schlagabraum, Prügel- und Scheitholz versteigert, und zwar im Gasthaus zur Krone in Wiesenbach.

Es gibt in der kalten Winterszeit sonst nicht viel zu vermelden, meine Liebe.

Sei gegrüßt

Dein Anton

 

(14) Liebe Luise, Heidelberg, den 31. März 1860
Der Sonntag kam endlich heran. Wir gingen wieder in die Heiliggeistkirche. Die Anzahl von Menschen war womöglich noch größer als am vorigen Sonntage. Mein Herz war zu großen und erhabenen Eindrücken vorbereitet, als der Pastor Paulmann mit feierlichem Ernst in seiner Miene, ganz in sich versenkt, auftrat und ohne Gebet und Eingang mit ausgestrecktem Arm zu reden anhub und sprach.

Er untersuchte die Natur des Meineids und stellte seine Folgen in ein schreckliches Licht. Der Donner rollte auf das Haupt des Meineidigen herab und er rief: »Ihr Berge fallet über mich, und ihr Hügel bedecket mich!« – Der Meineidige erhielt keine Gnade, er wurde vor dem Zorn des Ewigen vernichtet.

Dann schwieg Paulmann wie erschöpft – ein panisches Schrecken bemächtigte sich aller Zuhörer.  Ich rechnete in der Eile die Jahre meines Lebens hindurch, ob ich mich nicht etwa eines Meineids schuldig gemacht habe.

Aber nun begann der Zuspruch. Dem Verzweifelnden wurde Gnade und Verzeihung angekündigt, wenn er zehnfach büßte, was er Witwen und Waisen entrissen; wenn er sein ganzes Leben hindurch seine Schuld mit Tränen der Reue und guten Werken wieder abzuwaschen suchte.

Ich ging nun nicht aus der Kirche, ich musste erst den Pastor Paulmann zum Abendmahl gehen sehen. Was hätte ich darum gegeben, dass ich schon zum Abendmahl hätte mitgehen dürfen!

Dann sah ich den Pastor Paulmann nach Hause gehen. Sein Sohn, ein Knabe von neun Jahren, ging neben ihm. Meine ganze Existenz hätte ich darum gegeben, um dieser glückliche Sohn zu sein.  Wenn ich nun den Pastor Paulmann sah, wie über die Straße ging und immer denen, die ihn grüßten, freundlich dankte, so war es, als ob ich um sein Haupt einen gewissen Schimmer erblickte und unter den übrigen Sterblichen ein übermenschliches Wesen dahin wandeln sah. Mein höchster Wunsch war, durch mein Hutabnehmen nur einen seiner Blicke auf mich zu ziehen – und als mir das gelungen war, eilte ich schnell nach Hause, um diesen Blick gleichsam in meinem Herzen zu bewahren.

Den folgenden Sonntag predigte der Pastor Paulmann des Mittags von der Liebe gegen die Brüder, und so seelenerschütternd seine Predigt wider den Meineid gewesen war, so sanftrührend war diese. Als die Predigt vorbei war, so war die Reihe an dem Pastor Paulmann, die Einsegnung beim Abendmahl zu verrichten. Wie beneidete ich einen jeden, der zum Altar hinzutreten und aus den Händen des Pastor Paulmann das Abendmahl empfangen durfte! –Ein sehr junges Frauenzimmer, die schwarz gekleidet, mit blassen Wangen und einer Miene voll himmlischer Andacht zum Altar hinzutrat, machte zuerst auf mein Herz einen Eindruck, den ich bisher noch nicht gekannt hatte.

Nun hatte meine Phantasie ein neues Spiel. Die Idee vom Abendmahl war jetzt diejenige, womit ich zu Bette ging und aufstund, und womit ich mich den ganzen Tag über, wenn ich bei meiner Arbeit allein war, beschäftigte; dabei schwebte mir immer der Pastor Paulmann im Sinne. Zuweilen drängte sich denn auch in meiner Phantasie das Bild des schwarz gekleideten jungen Frauenzimmers mit der blassen Farbe und andachtsvollen Miene wieder vor.

Durch dies alles wurde meine Einbildungskraft so begeistert, dass ich mich für den glücklichsten Menschen unter der Sonne würde gehalten haben, wenn ich den künftigen Sonntag hätte zum Abendmahl gehen dürfen. Ich versprach mir eine so überirdische himmlische Tröstung beim Genuss des Abendmahls, dass ich  schon im voraus Freudentränen darüber vergoss. Alle vierzehn Tage wenigstens nahm ich mir dann vor, zum Abendmahl zu gehen, wenn er erst so weit wäre. Und dann schlich sich ganz geheim in diesen Wunsch die Hoffnung mit ein, dass durch dieses öftere Zumabendmahlgehen der Pastor Paulmann mich vielleicht am Ende bemerken würde: und dieser Gedanke war es hauptsächlich, welcher bei mir die unaussprechliche Süßigkeit in diese Vorstellungen brachte. So lag auch hier die Eitelkeit im Hinterhalt verborgen, wo sie mancher vielleicht am wenigsten vermutet hätte.

Allein, sei es nun, dass diese unnatürliche Überspannung meiner Seelenkräfte oder die für meine Jahre zu große Anstrengung meines Körpers zur Arbeit mich zuletzt niederwerfen musste – ich ward gefährlich krank. Meine Pflege war nicht die beste. Ich phantasierte im Fieber und lag oft ganze Tage lang allein, ohne dass sich jemand um mich kümmerte.

Endlich arbeitete doch meine gute Natur sich durch: ich ward wiederhergestellt. – Eine gewisse Trägheit und Niedergeschlagenheit blieb aber demohngeachtet von dieser Krankheit zurück – und der menschenfreundliche Herr Lobenstein hätte mir beinahe durch eine seiner sanften Ermahnungen einen tödlichen Rückfall verursacht:

Es war eines Abends in der Dämmerung, da Lobenstein in einem dunklen abgelegenen Gemache sich eines warmen Kräuterbades bediente, wobei ich ihm zur Hand sein musste. Da er nun in diesem Bade schwitzte und große Angst ausstund, so sagte er zu mir mit einer Stimme, die mir durch Mark und Beine drang: Anton! Anton! hüte dich vor der Hölle! – und dabei sah er starr in eine Ecke hin.

Ich zitterte bei diesen Worten, ein plötzlicher Schauder lief mir durch den ganzen Körper. Alle Schrecken des Todes überfielen mich – denn ich zweifelte nicht im geringsten, dass Lobenstein in diesem Augenblick eine Erscheinung gehabt habe, wodurch ihm mein Tod angedeutet sei; und das habe ihn zu dem fürchterlichen Ausruf: Hüte, ach! hüte dich vor der Hölle! bewogen.

Lobenstein stieg nach diesem Ausruf plötzlich aus dem Bade, und ich musste ihm zu seiner Kammer leuchten. Mit bebenden Knien ging er vor mir her: und Lobenstein schien mir blasser als der Tod auszusehen, da er von mir wegging.

Ich betete nun mit Andacht und Heftigkeit zu Gott , sobald ich allein war. Mir fiel ein, dass ich mehr als zwanzigmal auf der Straße gelaufen, gesprungen und mutwillig gelacht hatte und nun lagen alle die Qualen der Hölle auf mir, welche ich dafür ewig würde erdulden müssen. Hüte, ach hüte dich vor der Hölle! gellte noch immer in meinen Ohren, als ob ein Geist aus dem Grabe mir diese Worte zugerufen hätte  und ich fuhr fort eine volle Stunde nacheinander zu beten bis ich mich beruhigt hatte.

Ich hatte mein Fieber weggebetet, worin ich wahrscheinlich wieder zurückgefallen sein würde, wenn meine empörten Geister nicht diesen Ausweg gefunden hätten.  So heilt oft eine Schwärmerei, eine Tollheit die andere, die Teufel werden ausgetrieben durch Beelzebub.

Ich wurde nach dieser Ermattung durch einen ruhigen Schlaf erquickt und stand am andern Morgen wieder gesund auf – aber der Gedanke an den Tod erwachte wieder mit mir – höchstens glaubte ich, sei mir eine kleine Frist zur Bekehrung gegeben, und nun müsse ich sehr eilen, wenn ich noch meine Seele retten wolle.

Das tat ich denn auch, so sehr ich konnte; ich betete des Tages unzählige Male in einem Winkel auf meinen Knien und erträumte mir zuletzt dadurch eine feste Überzeugung von der göttlichen Gnade und eine solche Heiterkeit der Seele, dass ich mich oft schon im Himmel glaubte und mir nun manchmal den Tod wünschte, ehe ich wieder von diesem guten Wege abkommen möchte.

Aber es konnte nicht fehlen, dass bei allen diesen Ausschweifungen meiner Phantasie die Natur ihren Zeitpunkt wahrnahm, wo sie wieder zurückkehrte. Dann erwachte wieder die natürliche Liebe zum Leben um des Lebens willen in meiner Seele. Dann war mir freilich der Gedanke an meinen bevorstehenden Tod etwas sehr Trauriges und Unangenehmes, und ich betrachtete diese Augenblicke als solche, wo ich wieder aus der göttlichen Gnade gefallen sei, und geriet darüber in neue Angst, weil es mir nicht möglich war, die Stimme der Natur in mir zu unterdrücken.

Ich empfand jetzt doppelt alle die traurigen Folgen des Aberglaubens, der mir in meiner Kindheit eingeflößt war. Meine Leiden konnte man im eigentlichen Verstande die Leiden der Einbildungskraft nennen. Sie waren für mich doch wirkliche Leiden, sie raubten mir die Freuden meiner Jugend.

Von meiner Mutter wusste ich, es sei ein sicheres Zeichen des nahen Todes, wenn einem beim Waschen die Hände nicht mehr rauchen. Nun sah ich mich sterben, so oft ich mir die Hände wusch. Ich hatte gehört, wenn ein Hund im Hause mit der Schnauze zur Erde gekehrt heule, so wittre er den Tod eines Menschen; nun prophezeite mir jedes Hundegeheul meinen Tod. Wenn ein Huhn wie ein Hahn krähte, so war das ein untrügliches Zeichen, dass bald jemand im Hause sterben würde. Und nun ging hier gerade ein solches Unglück weissagendes Huhn auf dem Hofe herum, welches beständig auf eine unnatürliche Weise wie ein Hahn krähte.  Für mich klang keine Totenglocke so fürchterlich als dieses Krähen; und dieses Huhn hat mir mehr trübe Stunden in meinem Leben gemacht als irgendeine Widerwärtigkeit, die ich sonst erlitten habe. Oft schöpfte ich wieder Trost und Hoffnung zum Leben, wenn das Huhn einige Tage schwieg. Sobald es sich dann wieder hören ließ, waren alle meine schönen Hoffnungen und Entwürfe plötzlich gescheitert.

O Gott, was hab ich da alles geglaubt. Ich möchte jetzt nicht mehr von mir weiterschreiben, mein Luischen, es schlägt mir zu sehr aufs Gemüt. Ich sende Dir stattdessen die Nachrichten.

 

Neckargemünd. Der Abgeordnete Schwarzmann berichtete der 2. Kammer der Stände in Karlsruhe über die Bitte mehrerer Gemeinden, die Wiedereinrichtung des Amtes Neckargemünd[49] betreffend. Die Kommission stellte den Antrag, die Bittschrift dem großherzoglichen Staastsministerium zur Kenntnisnahme und geeigneten Berücksichtigung zu überweisen. Präsident  Junghans legte der großherzoglichen Regierung den Wunsch an das Herz, das Amt Neckargemünd in seinem alten Bestande wieder herzustellen, auch Allmang, Fröhlich, Krausmann, Fischler, Bissing und Gschrey sprachen in diesem Sinne, doch wurde dabei der Wunsch geäußert, dass die Wiedereinrichtung des Amtes Neckargemünd nicht auf Kosten anderer Gemeinden geschehe. Der Herr Regierungskommissär erklärte hierauf, dass der großherzoglichen Regierung die Missstände bekannt seien; dass die den Gegenstand auch schon erwogen, denselben aber habe beruhen lassen, weil man abwarten wollte, ob die im Bau begriffene Eisenbahn diesen Klagen nicht abzuhelfen vermöge. Junghans wünschte, dass die großherzogliche Regierung dieses Abwarten vermeiden möge, da man ja jetzt schon wisse, welche Orte die Eisenbahn berühren werde. Der Kommissionsantrag wurde hierauf angenommen.

Heidelberg. Dem Vernehmen nach ist der Kostenaufwand für die Bahn von Heidelberg nach Mosbach auf mehr als  9 Millionen fl. veranschlagt. Die Mosbach-Heidelberger Bahn soll zum Bau die Zeit von 3 Jahren in Anspruch nehmen.

Heidelberg. Am 16. März 1860 wurde in Heidelberg der große erste Tunnel von Westen nach Osten durchbrochen. Die Bergleute hatten in diesem Tunnel größtenteils loses Gestein zu beareiten und erst gegen die Mitte kamen sie auf kompakte Felsmassen, wo sie, als sie glaubten noch 10 bis 12 Fuß voneinander zu sein, sich zu ihrer gegenseitigen Freude begegneten, und unter Musik bei fröhlichem Trunk dieses erfreuliche Ereignis bis in die späte Nacht hinein feierten.

Waldwimmersbach/Daisbach. Bei der 36. Öffentlichen Sitzung der 2. Kammer der Stände am 20.3.1860 wurde gegen die Konvention eine Eingabe aus Waldwimmersbach und Daisbach gemacht.

Heiliger Stuhl. Zum näheren Verständnis der Zerwürfnisse zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Lande des Kirchenstaats, dem weltlichen Herrschaftsgebiet des Staates, mag dir folgendes dienen: Pius IX. hält sich als Statthalter Christi, als Oberhaupt der Kirche für unfehlbar. Reformen könne es danach im Kirchenstaat nicht geben, denn die Theokratie (Gottesstaat) kenne keine Irrtümer und Mißbräuche in sich. Nur etwas daran zu verbessern, wäre eine Anmaßung gegen Gott (?) wie Furcht vor den Menschen, und ein Zugeständnis für die Revolution.

Baden. Die politische Spannung wegen der Konvention beschäftigt die Gemüter sehr. So naht jetzt auch der entscheidende Tag, an welchem die Vertreter des badischen Volkes ihr Urteil über die von der großherzoglichen Regierung mit dem päpstlichen Stuhle abgeschlossene Konvention abgeben werden. Mit der Konvention ist bei uns der Anfang gemacht, ein ähnliches Kirchenregiment zu begründen, das sich jeder ständischen Kontrolle und unserer verfassungsmäßigen Einwirkung vollständig entzieht. Ich sehe das nicht nur mit der Besorgnis des Bürgers, sondern auch mit dem gerechten Schmerz des Christen und des Patrioten. Das letzte Wort der römischen Politik in Deutschland heißt völlige Ablösung der Katholiken von aller geistigen und geistlichen Gemeinschaft mit dem evangelischen Deutschland, ein Zerreißen der Nation in zwei sich völlig fremde Kasten. Wir waren in Deutschland auf dem besten Wege, dass die seit Jahrhunderten getrenntenTeile sich wieder verstanden. Es darf nach meiner unerschütterlichen Ansicht eine Konvention über die rechtliche Stellung und das Verhältnis der katholischen Kirche im Großherzogtum nimmer ohne Zustimmung der beiden Kammern abgeschlossen werden.

Baden. Die Badische Landeszeitung benachrichtigt ihre Leser, dass auf Antrag des Staatsanwalts bei großh. Hofgerichte des Mittelrheinkreises vom 2. März 1860, am Abend des 3. die Nummern 30, 31, 43 ihres Blattes nachträglich in Beschlag genommen wurden, und zwar Nr. 30 wegen des Artikels „Aus Baden, 31. Jan., Auszüge aus einer ungedruckten Schrift, das Konkordat mit Baden betreffend II.“, Strafantrag 6 Wochen Gefängnis; Nr. 31, Strafantrag 8 Wochen Gefängnis; Nr. 43, Strafantrag 6 Wochen Gefängnis.

Wiesenbach. In Wiesenbach wurde aus dem Domänenwalddistrikt I., Judenwald, Abteilung 1 nächst Langenzell am 15. März im Gasthaus zur Krone in Wiesenbach Holz versteigert.

Spechbach. In Spechbach wurden am 21.3.1860 morgens 9 Uhr im Spechbacher Gemeindewald 75 Klafter buchen Scheithoz und 1200 buchene Wellen auf der Hiebsstelle versteigert.

Mauer. Forderungen an den nach Amerika ausgewanderten Philipp Münch von Mauer, waren am Freitag den 23. Des Monats, vormittags 9 Uhr, beim Amtstag zu Neckargemünd anzumelden[50].

Bammental. In Bammental wurden aus dem dortigen Gemeindewald am 27.3.1860 morgens 9 Uhr auf der Hiebstelle im Dikstrikt Großenwald nächst bei Gauangelloch versteigert, 35 Eichstämme und 2 Buchstämme, 20 ¾ Klafter buchen Scheitholz, 17 ½ Klafter aspen Scheitholz, 2 ¾ Klafter eichen Scheitzholz und 3274 buchene Wellen. Am Mittwoch, den 28. d.M. im Distrikt Bammertsberg 43 Klafter buchen Scheitholz, 10 Klafter buchen Klotzholz und 320 Stück gemischte Wellen[51].

Sei gegrüßt

Anton

 

(15) Liebe Luise, Heidelberg, den 30.4.1860

ich hoffe, Du kannst das Folgende verstehen, und ich wünsche, ich kann es in Worte fassen, wie ich es fühle. Wenn ich das nicht vermag, überspringe einfach die Schilderung meines Seelenlebens und lies direkt Deine Nachrichten. Es ist meine Psychologie des Ortes, die ich dir schildere. Wie sich die Seele an Orten festmacht, und wie verschiedene Orte verschiedene Zustände der Seele hervorrufen und vergleichbar machen.

Da ich damals – wie berichtet – nun so schon mit lauter Todesgedanken umging, fügte es sich, dass ich das erste Mal nach meiner Krankheit wieder zu dem Pastor Paulmann in die Heiliggeistkirche kam. Dieser stand schon auf der Kanzel und predigte über – den Tod.

Das war für mich ein Donnerschlag; denn da ich nun einmal gelernt hatte, nach dem, was mir von einer besonderen göttlichen Führung in den Kopf gesetzt war, alles auf mich zu beziehen, wem anders als mir sollte nun wohl die Predigt vom Tode gehalten werden? Mit nicht mehr Herzensangst kann ein Missetäter sein Todesurteil anhören. als ich diese Predigt. Der Pastor Paulmann fügte zwar Trostgründe genug gegen die Schrecken des Todes hinzu, aber was verschlug das alles gegen die natürliche Liebe zum Leben, die trotz aller Schwärmereien, wovon ich den Kopf vollgepfropft hatte, dennoch bei mir die Oberhand behielt.

Betrübten Herzens ging ich nach Hause, und vierzehn Tage lang machte mich diese Predigt melancholisch, die der Pastor Paulmann, wenn er gewusst hätte, dass sie noch auf zwei Menschen solche Wirkung wie auf mich tun würde, wahrscheinlich nicht würde gehalten haben.

So war ich nun in meinem dreizehnten Jahre ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstande sagen konnte, dass ich in jedem Augenblick lebend starb.

Aber der Frühling kam wieder heran, und die Natur, die alles heilt, fing auch bei mir allmählich an, wieder gutzumachen, was die Gnade verdorben hatte.

Ich fühlte neue Lebenskraft in mir; ich wusch mich, und meine Hände rauchten wieder – es heulten keine Hunde mehr – das Huhn hörte auf zu krähen – und der Pastor Paulmann hielt keine Todespredigten mehr.

Ich fing wieder an, des Sonntags für mich allein spazieren zu gehen, und einmal fügte es sich, dass ich, ohne es erst selbst zu wissen, gerade an das Tor kam, wo ich vor ungefähr anderthalb Jahren mit meinem Vater zuerst nach Heidelberg eingewandert war. Ich  konnte mich nicht enthalten, hinaus zu gehen und die mit Weiden bepflanzte Schlierbacher Landstraße zu verfolgen, die ich damals von Mönchzell gekommen war. Sonderbare Empfindungen entwickelten sich dabei in meiner Seele. Mein ganzes Leben von jener Zeit an stand jetzt auf einmal in meiner Erinnerung da. Es war mir, als ob ich aus einem Traume erwachte, und nun wieder auf dem Flecke wäre, wo der Traum anhub; alle die abwechselnden Szenen meines Lebens, die ich diese anderthalb Jahre hindurch in Heidelberg gehabt hatte, drängten sich dicht ineinander, und die einzelnen Bilder schienen sich nach einem größeren Maßstabe, den meine Seele auf einmal erhielt, zu verkleinern.

So mächtig wirkt die Vorstellung des Orts, woran wir alle unsere übrigen Vorstellungen knüpfen.  Die einzelnen Straßen und Häuser, die ich täglich wieder sah, waren das Bleibende in meinen Vorstellungen, woran sich das immer Abwechselnde in meinem Leben anschloss, wodurch es Zusammenhang und Wahrheit erhielt, wodurch ich das Wachen vom Träumen unterschied.

In der Kindheit ist es insbesondre nötig, dass alle übrigen Ideen sich an die Ideen des Orts anschließen, weil sie gleichsam in sich noch zu wenig Konsistenz haben und sich an sich selber noch nicht festhalten können.

Es fällt daher auch wirklich in der Kindheit oft schwer, das Wachen vom Traume zu unterscheiden.

Auch pflegt man des Morgens beim Erwachen oft noch halb zu träumen, und der Übergang zum Wachen wird allmählich dadurch gemacht, dass man erst anfängt, sich zu orientieren, und wenn man denn nur erst einmal den hellen Schein des Fensters gefasst hat, so ordnet sich nach und nach alles Übrige von selber.

Daher war es sehr natürlich, dass ich, nachdem ich schon einige Wochen in Heidelberg im Lobensteinschen Hause war, des Morgens noch immer glaubte, ich träume, wenn ich schon wirklich wachte, weil der Stift, woran ich sonst immer des Morgens beim Erwachen die Ideen vom vorigen Tage sowohl als von meinem vorigen Leben anknüpfte, und wodurch sie erst Zusammenhang und Wahrheit erhielten, nun gleichsam verrückt war; weil die Idee des Orts nicht mehr dieselbe war.

Ist es also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu machen?

In späteren Jahren und insbesondre, wenn man viel gereist ist, verliert sich dies Anschließen der Ideen an den Ort in etwas. Wo man hinkommt, sieht man entweder Dächer, Fenster, Türen, Steinpflaster, Kirchen und Türme, oder man sieht Wiese, Wald, Acker oder Heide. Die auffallenden Unterschiede verschwinden; die Erde wird sich überall gleich.

Wenn ich in Heidelberg auf der Straße ging, so war es mir besonders des Abends im Anfange der Dämmerung manchmal plötzlich wie im Traume. Auch pflegte sich dies bei mir zu ereignen, wenn ich in irgendeine Straße ging, die mir eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Straße in Mönchzell zu haben schien.  Dann deuchte mir einige Augenblicke mein Zustand in Mönchzell wieder gegenwärtig; die Szenen meines Lebens verwirrten sich untereinander.

Bei meinen Spaziergängen fand ich nun immer einen besonderen Reiz darin, Gegenden in der Stadt aufzusuchen, wo ich noch gar nicht gewesen war. Meine Seele erweiterte sich dann immer, es war mir, als ob ich aus dem engen Kreise meines Daseins einen Sprung gewagt hätte; die alltäglichen Ideen verloren sich, und große angenehme Aussichten, Labyrinthe der Zukunft eröffneten sich vor mir.

Allein es war mir noch nie gelungen, mein ganzes Leben in Heidelberg mit allen seinen mannigfaltigen Veränderungen in einen einzigen vollen Blick zusammenzufassen. Der Ort, wo ich mich jedes Mal befand, erinnerte mich immer zu stark an irgendeinen einzelnen Teil desselben, als dass noch für das Ganze in meiner Denkkraft Platz gewesen wäre; ich drehte mich mit meinen Vorstellungen immer in einem engen Zirkel meines Daseins herum.

Um von dem Ganzen meines hiesigen Lebens ein anschauliches Bild zu haben, war es nötig, dass gleichsam alle die Fäden abgeschnitten wurden, die meine Aufmerksamkeit immer an das Momentane, Alltägliche und Zerstückelte desselben hefteten; und dass ich zugleich in den Standpunkt wieder versetzt wurde, aus welchem ich mein Leben in Heidelberg betrachtete, ehe ich es anfing, da es noch wie eine dämmernde Zukunft vor mir lag.

In diesen Standpunkt wurde ich nun gerade versetzt, da ich zufälligerweise aus dem Tore ging, durch welches ich vor ungefähr anderthalb Jahren auf der breiten, mit Weiden bepflanzten Schlierbacher Landstraße von Mönchzell her hereingekommen war,

Dieser Ort musste es gerade sein, der mich durch die plötzliche Erinnerung an tausend Kleinigkeiten gerade in den Zustand wieder zu versetzen schien, worin ich mich unmittelbar vor dem Anfange meines hiesigen Lebens befand.  Alles, was dazwischen lag, musste sich nun in meiner Einbildungskraft zusammendrängen, wie Schatten ineinander gehen, einem Traum ähnlich werden. Denn mein jetziges Dastehen auf der Brücke und das auf das Heidelberger Schloss Hinaufsehen, schloss sich dicht an mein Dastehen und das auf das Schloss-Hinaufsehen vor anderthalb Jahren an. Die Vergangenheit, alle die Szenen des Lebens, die ich in Heidelberg geführt hatte, stellte ich mir jetzt wieder vor, wie ich es mir damals vor anderthalb Jahren noch als zukünftig gedacht hatte, und die zu lebhafte Vorstellung und Wiedererinnerung des Orts machte, dass die Erinnerung an den Zwischenraum der Zeit, welche unterdes verflossen war, verlosch oder schwächer wurde – anders wenigstens lässt sich wohl schwerlich das Phänomen jener sonderbaren Empfindung erklären, die ich damals hatte, und die ein jeder wenigstens einige Male in seinem Leben gehabt zu haben sich erinnern wird.

Mehr als zehnmal stand ich auf dem Punkte, nicht wieder in die Stadt zurückzukehren, sondern gerade den Weg vor mich hin wieder nach Mönchzell zu gehen, wenn mich nicht der Gedanke an Hunger und Kälte wieder zurückgeschreckt hätte.

Aber von dem Tage an blieb der Vorsatz fest bei mir, im Lobensteinschen Hause nicht länger mehr zu bleiben, es koste auch, was es wolle. Ich wurde daher auch gegen alles gleichgültiger, weil ich mir vorstellte, dass es nun nicht lange mehr so dauern würde. Lobenstein selbst fing nun an, meiner so überdrüssig zu werden, dass er endlich nach Mönchzell an meinen Vater schrieb, dieser möchte seinen Sohn, mit dem nichts anzufangen wäre, nur immer wieder abholen.

 

Was dann passierte schreibe ich dir im nächsten Brief. Hier wieder die Nachrichten:

Dem Himmel sei gedankt. Das Konkordat ist verworfen, die Verfassung gerettet, und damit der Bestand und das Ansehen unseres erhabenen Fürstenhauses befestigt, die Ehre des badischen Volkes erhöht und Deutschland vor dem geistlichen Despotismus bewahrt! Wer nur einigermaßen über die Grenze kommt, der weiß, wie sehr Baden, als der Vorort der deutschen Freiheit, als der deutsche Musterstaat gilt; wäre dieser gefallen, so wäre in das ganze Deutschland hinein eine Bresche geschossen gewesen. Es ist kein leichtes Werk, der Kirche die gebührende Freiheit festzustellen und dennoch Priesterherrschaft auszuschließen.

In Bruchsal fand am 31. März die Schwurgerichssitzung des Mittelrheinkreises statt. Rosalie Birnbräuern von Beuern (heutiger Stadtteil Lichtental von Baden-Baden), eine altersgraue Kartenschlägerin und Wahrsagerin, deren Leben ein überreiches Sündenregister aufzuweisen hat, befasst sich am Abend ihrer Tage unter anderem auch damit, dass sie leichtfertigen Dirnen, deren es in der Stadt Baden nicht wenige zu geben schein, durch Verabreichung von Tränken zur Beseitigung der Folgen ihrer Liebeshändel behilflich zu sein bemüht war. Für solche Bemühungen ließ sich sich jeweils reichlich bezahlen. Der wirklich verdiente Lohn wurde ihr durch das Schwurgericht zu Teil, nämlich eine geschärft Zuchthausstrafe von 6 Jahren.

Erledigt ist die evangelische Schulstelle zu Michelbach, Bezirks Neckargemünd, mit dem Normalgehalt 1. Klasse, freier Wohnung und dem gesetzlichen Anteil am Schuldgeld zu 1 fl. 12 kr von etwa 66 Kindern[52].

Aus guter Quelle ist zu ernehmen, dass am 25. April 1860 bei der Gußstahlfabrik Krupp in Essen (Rheinpreußen) die für das großherzogliche Artillerie-Regiment nötigen leichteren gezogenen Gußstahlkanonen – etwa 40 an der Zahl – bestellt wurden.

 

Das nächste Mal wieder mehr.

Dein Anton

 

(16) Liebe Luise, Heidelberg, den 31. Mai 1860

Nichts hätte für mich erwünschter sein können als die Nachricht, dass mein Vater mich nun bald wieder nach Mönchzell holen würde. In die Schule, schloss ich, müsse ich doch in Mönchzell auf alle Fälle geschickt werden, ehe ich zum Abendmahl zugelassen würde, und dann wollte ich mich schon so auszeichnen, dass man aufmerksam auf mich werden solle. – So sehr ich vorher nach Heidelberg zu kommen gestrebt hatte, so sehr verlangte mich jetzt nach Mönchzell wieder zurück, und ich wiegte mich nun aufs Neue in angenehmen Träumen von der Zukunft ein.

Ohngeachtet meiner harten Lage aber waren mir dennoch viele Dinge in Heidelberg sehr lieb geworden, so dass sich in meine angenehmen Hoffnungen oft eine Wehmut mischte, die mich in eine sanfte Melancholie versetzte. – Oft stand ich einsam am Neckar und sah irgendeinem vorbeifahrenden kleinen Kahne nach, soweit ich ihn mit den Augen verfolgen konnte – dann war es mir oft plötzlich, als habe ich einen Blick in die dunkle Zukunft getan, aber wenn ich eben das angenehme Blendwerk festzuhalten glaubte, so war es auf einmal verschwunden.

Ich suchte nun an allen Gegenden Heidelbergs, die ich bisher auf meinen Spaziergängen des Sonntags besucht hatte, gleichsam noch einmal zu letzen und nahm von einer nach der andern wehmütig Abschied.

Ich hörte von dem Pastor Paulmann noch verschiedene Predigten, worin manche einzelne Stellen nie aus meinem Gedächtnis gekommen sind. –

Das Chor in der Heiliggeistkirche, wo die Orgel war und die Schüler sangen, schien mir immer etwas für mich Unerreichbares zu sein; sehnsuchtsvoll blickte ich oft dahin auf und wünschte mir keine größere Glückseligkeit, als nur einmal den wunderbaren Bau der Orgel und was sonst da war, in der Nähe betrachten zu können, da ich dies alles jetzt nur in der Ferne anstaunen durfte. – Diese Phantasie war mit einer andern verwandt: so wie die Stadtmusikanten in Heidelberg von einem gewissen Turm des Morgens und Abends standen, um hinunter zu blasen, träumte ich davon in Mönchzell vom Reichelsberg mit Gleichgesinnten ins Dorf hinunter zu blasen.

 

Bei meinen Schmerzen nun, die ich am Fuße erduldete; bei aller Bedrückung von meinen Eltern, worunter ich seufzte; was war mein Trost? was war der angenehmste Traum meiner Kindheit? was mein sehnlichster Wunsch, über den ich oft alles vergaß? – – Was anders, als die Vorstellung vom Reichelsberg ins Dorf hinunter zu blasen.

Länger als ein Jahr hindurch versüßte mir dies Spiel meiner Phantasie die trübsten Stunden seines Lebens – aber ach, ich musste Mönchzell verlassen, ohne meines sehnlichsten Wunsches gewährt zu werden. – – Doch das Bild vom Spiel auf dem Reichelsberg wich nie aus meinen Gedanken, es verfolgte mich nach Heidelberg und schwebte mir dort oft in nächtlichen Träumen auf hohen Bergen vor, die ich bestieg, und auf denen ich stand und mit unaussprechlichem Vergnügen die Töne ins Tal hinunterblies.

.

Nun ging ich aber einmal mit dem Gedanken in die Heiliggeistkirche, die Predigt des Pastor Paulmann zu Hause aufzuschreiben, und auf einmal war es, als ob es, indem ich zuhörte, in meiner Seele licht wurde, meine Aufmerksamkeit hatte eine neue Richtung erhalten – vorher hatte ich mit dem Herzen zugehört, jetzt hörte ich zum ersten Male mit dem Verstande zu – ich wollte nicht nur durch einzelne Stellen erschüttert werden, sondern das Ganze der Predigt fassen. – Die Predigt handelte von der Nächstenliebe, wie glücklich die Menschen sein würden, wenn jeder das Wohl aller übrigen und alle übrige das Wohl jedes einzelnen zu befördern suchten. – Nie ist mir diese Predigt mit allen ihren Abteilungen und Unterabteilungen aus dem Gedächtnis gekommen, die ich mit dem Vorsatz hörte, um sie aufzuschreiben, welches ich tat, sobald ich zu Hause kam und den August, dem ich es nun vorlas, sehr dadurch in Verwunderung setzte.

Das Aufschreiben dieser Predigt hatte gleichsam eine neue Entwickelung meiner Verstandeskräfte bewirkt. – Denn von der Zeit fingen meine Ideen an, sich allmählich untereinander zu ordnen – ich lernte selbst für mich über einen Gegenstand nachdenken – er suchte die Reihe meiner Gedanken wieder außer mir darzustellen, und weil ich sie niemanden sagen konnte, so machte ich schriftliche Aufsätze, die denn freilich oft sonderbar genug waren. – Denn hatte ich vorher mit Gott mündlich gesprochen, so fing ich nun an, mit ihm zu korrespondieren, und schrieb lange Gebete an ihn, worin ich ihm meinen Zustand schilderte.

Ich fühlte mich jetzt umso mehr zu schriftlichen Aufsätzen gedrungen, weil es mir gänzlich an aller Lektüre fehlte – denn Lobenstein hatte mir schon lange kein Buch mehr in die Hände gegeben, ausgenommen Engelbrechts, eines Tuchmachergesellen zu Winsen an der Aller Beschreibung von dem Himmel und der Hölle, welches er mir geschenkt hatte. –

Einen ärgern Aufschneider kann es nun wohl in der Welt nicht mehr geben, als dieser Engelbrecht gewesen sein muss, von dem man geglaubt hatte, dass er wirklich tot wäre, und der nun, nachdem er sich wieder erholt hatte, seiner alten Großmutter weismachte, er sei wirklich im Himmel und in der Hölle gewesen; diese hatte es dann weiter erzählt, und so war dies köstliche Buch entstanden.

Der Kerl entblödete sich nicht zu behaupten, er sei mit Christo und den Engeln Gottes bis dicht unter dem Himmel geschwebt und habe da die Sonne in die eine und den Mond in die andre Hand genommen und am Himmel die Sterne gezählt.

Demohngeachtet waren seine Vergleichungen zuweilen ziemlich naiv – so verglich er z. B. den Himmel mit einer köstlichen Weinsuppe, wovon man auf Erden nur wenige Tropfen gekostet hat und die man alsdenn mit Löffeln essen könne – und die himmlische Musik war ebenso weit über die irdische Musik erhaben als ein schönes Konzert über das Geleier eines Dudelsacks oder über das Tüten eines Nachtwächterhorns.

Und was ihm für Ehre im Himmel widerfahren war, davon konnte er nicht genug rühmen.

Nun ja, im nächsten Brief mehr. Hier wieder die Nachrichten Rund um Heidelberg.

Baden. Der Kulturkampf tobt im Großherzogtum Baden nun schon seit einem Jahrzehnt. Das Recht, legale Eheschließungen durchzuführen, liegt immer noch allein bei den Kirchen, in Baden also bei den katholischen oder evangelischen Ortsgeistlichen oder dem Rabbiner. Der Heilige Stuhl wehrt sich gegen die Einführung der Zivilehe in Baden. Die Kirche verweigert solchen, die aus der Kirche ausgetreten sind oder ihr nicht angehören, die Trauung, sie können überhaupt nicht heiraten. Damit ist hoffentlich bald Schluss. Die Zivilehe, so sie denn einmal eingeführt wird, wird vor allem die Rolle der katholischen Kirche beschneiden. Möge der Staat die Oberhand behalten. Ich glaube, dass der Staat gegenüber der Kirche mit dem mächtigen Rom im Rücken nicht einknicken wird. Die zweite Kammer unseres Landtags ist mehrheitlich liberal, und unser Großherzog gehört der evangelischen Kirche an.

Neckargemünd. In Neckargemünd wurde die Landstraße im Gumpental von hundert und hundert tätigen Menschen neu gebaut. Das ist die Straße am Ortsanfange, wenn Du von Heidelberg kommst. Am 1. Mai wird sie dem Verkehr übergeben. Abgesehen, dass diese Straße kürzer ist als die alte, fährt man nun ganz eben nach Neckargemünd, während man früher eine bedeutende Steige hinauf und herabfahren musste. Doch mit der nächsten Woche beginnen die Arbeiten aufs Neue; denn dicht neben der Landstraße, nur ungefähr 10 Fuß höher, zieht sich die Eisenbahnlinie hin, wo nun die Arbeiten an der Eisenbahn fortgesetzt werden.

Neckarbischofsheim. Am 2. Mai 1860 wurde die Grundsteinlegung zum Wiederaufbau des abgebrannten Teils des Städtchens gefeiert.

Heidelberg. Eine freudige Nachricht verbreitet sich durch die Stadt, indem sicherem Vernehmen nach Seine Königliche Hohiet der Großherzog mit Allerhöchstdessen erlauchter Gemahlin den 30. Mai auf mehrere Tage hier eintreffen würden. Es sollen zu diesem Zwecke schon in dem großherzoglichen Palais dahier Vorkehrungen getroffen werden.

Das großherzogliche Oberamt Heidelberg hat die bestehende Vorschrift in Erinnerung gebracht, dass beim Eintritt der heißen Jahreszeit die Straßen und Gehbahnen wenigstens einmal des Tages zur Zeit, wenn der Schatten auf die Straße fällt, mit frischem Wasser begossen werden müssen.

Heidelberg. Nach dem neuesten Adressbuch unserer Universität beträgt die Gesamtanzahll der Studierenden in diesem Semester 660 (466 Ausländer, 194 Inländer). Die Anzahl der auf der Universität Freiburg Studierenden beläuft sich auf 320 (253 Inländer, 67 Ausländer).

 

(17) Liebe Luise, 30. Juni 1860

Nun ging Lobensteins Unwillen und Hass gegen mich häufig bis zu Scheltworten und Schlägen; er verbitterte mir mein Leben auf die grausamste Weise; er ließ mich die niedrigsten und demütigendsten Arbeiten tun. – Nichts aber war für mir kränkender, als wie ich zum ersten Male in meinem Leben eine Last auf dem Rücken, und zwar einen Tragkorb mit Hüten bepackt, über die öffentliche Straße durch Heidelberg tragen musste, indem Lobenstein vor mir herging – es war mir, als ob alle Menschen auf der Straße mich ansähen.

Jede Last, die ich vor mir oder unter dem Arme oder an den Händen tragen konnte, schien mir vielmehr ehrenvoll zu sein, als dass ich glaubte, sie mache mir Schande. – Nur dass ich itzt gebückt gehen, meinen Nacken unter das Joch beugen musste wie ein Lasttier, indes mein stolzer Gebieter vor mir herging, das beugte zugleich meinen ganzen Mut darnieder und erschwerte mir die Last tausendmal. Ich glaubte sowohl vor Müdigkeit als vor Scham in die Erde sinken zu müssen, ehe ich mit meiner Bürde an den bestimmten Ort kam.

Dieser bestimmte Ort war das Zeughaus, wo die Hüte, welche Kommissarbeit waren, abgeliefert wurden.

Dies Tragen auf dem Rücken schwächte meinen Mut mehr als irgendeine Demütigung, die ich noch erlitten hatte, und mehr als Lobensteins Scheltworte und Schläge. Es war mir, als ob ich nun nicht tiefer sinken könne; ich betrachtete mich beinahe selbst als ein verächtliches, weggeworfenes Geschöpf. Es war dies eine der grausamsten Situationen in meinem ganzen Leben, an die ich mich nachher, so oft ich ein Zeughaus sah, lebhaft wieder erinnerte, und deren Bild wieder in mir aufstieg, sooft er das Wort Unterjochung hörte.

Wenn mir so etwas begegnet war, so suchte ich mich vor allen Menschen zu verbergen; jeder Laut der Freude war mir zuwider; ich eilte auf das Plätzchen hinter dem Hause an den Neckar hin und blickte oft stundenlang sehnsuchtsvoll in die Flut hinab. – Verfolgte mich dann selbst da irgendeine menschliche Stimme aus einem der benachbarten Häuser, oder hörte ich singen, lachen oder sprechen, so deuchte es mir, als treibe die Welt ihr Hohngelächter über mich, so verachtet, so vernichtet glaubte ich mich, seitdem ich meinen Nacken unter das Joch eines Tragkorbes gebeugt hatte.

Es war mir denn eine Art von Wonne, selbst in das Hohngelächter mit einzustimmen, das ich meiner schwarzen Phantasie nach über mich erschallen hörte – in einer dieser fürchterlichen Stunden, wo ich über mich selbst in ein verzweiflungsvolles Hohngelächter ausbrach, war der Lebensüberdruss bei mir zu mächtig, ich fing auf dem schwachen Brette, worauf ich stand, an zu zittern und zu wanken. – Meine Knie hielten mich nicht mehr empor; ich stürzte in den Neckar – August war mein Schutzengel; er hatte schon eine Weile unbemerkt hinter mir gestanden und zog mich beim Arm wieder heraus – es waren demohngeachtet mehr Leute dazu gekommen – das ganze Haus lief zusammen, und ich wurde von dem Augenblick an als ein gefährlicher Mensch betrachtet, den man so bald wie möglich aus dem Hause fortschaffen müsse. – Lobenstein schrieb den Vorfall sogleich an meinen Vater, und dieser kam vierzehn Tage darauf mit unmutsvoller Seele nach Heidelberg, um mich, seinen missratenen Sohn, in dessen Herzen sich nach dem Urteil des Herrn von Karneppy der Satan einen unzerstörbaren Tempel aufgebauet hatte, nach Mönchzell wieder abzuholen.

Er hielt sich noch ein paar Tage bei dem Hutmacher Lobenstein auf, während welcher Zeit ich noch mit verdoppeltem Eifer in Gegenwart meines Vaters alle seine Geschäfte verrichtete und eine Beruhigung darin suchte, noch zuletzt alles zu tun, was in meinen Kräften stand. Von der Werkstatt, von der Trockenstube, vom Holzboden und von der Heiliggeistkirche nahm ich nun in Gedanken Abschied – und meine allerangenehmste Vorstellung, wenn er wieder nach Mönchzell kommen würde, war, dass ich dann meiner Mutter von dem Pastor Paulmann würde erzählen können.

Je näher die Abschiedsstunde herannahte, desto leichter wurde mir ums Herz. – Ich sollte nun bald aus meiner engen drückenden Lage herauskommen. – – Die weite Welt eröffnete sich wieder vor mir.

Von August war der Abschied zärtlich, von Lobenstein kalt wie Eis – es war an einem Sonntagnachmittage bei trübem Himmel, da ich mit meinem Vater wieder aus dem Lobensteinschen Hause ging – ich blickte die schwarze Türe mit den großen eingeschlagenen Nägeln noch einmal an und wandte ihr getrost den Rücken, um wieder aus dem Tore zu wandern, vor welchem ich vor kurzem noch einen so interessanten Spaziergang gemacht hatte. – Heidelberg war bald aus meinem Gesicht verschwunden, und ich sah nur noch den Königstuhl in der Ferne mit Schnee bedeckt in trüber Dämmerung sich in den dicht aufliegenden Wolken verlieren.

Das Herz meines Vaters war gegen mich kalt und verschlossen; denn er betrachtete mich völlig mit den Augen des Hutmacher Lobenstein und des Herrn von Karneppy, als einen, in dessen Herzen der Satan einmal seinen Tempel errichtet habe – es wurde unterwegs wenig gesprochen, sondern wir wanderten immer stillschweigend fort, und ich bemerkte kaum die Länge des Weges, auf eine so angenehme Art unterhielt ich mich mit meinen Gedanken, – wenn ich nun in Mönchzell meine Mutter und meine Brüder wiedersehen und ihnen meine Schicksale würde erzählen können.

Nach vier Stunden Wegs sah ich endlich die Lobbach wieder. Ich sah mich nun endlich in Mönchzell wieder und alles war mir neu – meine Eltern hatten eine andre kleinere und dunklere Wohnung bezogen – das war mir alles so fremd, indem ich die Treppen hinaufstieg, als ob ich da unmöglich zu Hause gehören könne. – Allein so kalt und abschreckend das Betragen meines Vaters gegen mich gewesen war, so laut und ausbrechend war itzt die Freude, womit mir meine Mutter und Brüder entgegen eilten, die meine von Frost aufgesprungenen Hände besahen, und von denen ich nun zum erstenmal wieder bedauert wurde.

Als ich am andern Tage ausging, besuchte ichalle die bekannten Plätze, wo ich sonst gespielt hatte, den Mühlwald, das Steinbächel, den Wengertsgrund – es war mir, als sei ich während der Zeit alt geworden, und als wollte ich mich nun an die Jahre meiner Jugend zurück erinnern – mir begegnete ein Trupp meiner ehemaligen Mönchzeller Mitschüler und Spielkameraden, die mir alle die Hände drückten und sich über meine Wiederkunft freueten.

Und sobald ich nur mit seiner Mutter allein war, was konnte ich wohl anders tun, als ihr von dem Pastor Paulmann erzählen? – Sie hatte ohnedem eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles Priesterliche und konnte mit mir recht gut in meinen Gefühlen für den Pastor Paulmann sympathisieren. – O welche selige Stunden waren das, da ich mein Herz ausschütten und stundenlang von dem Manne sprechen konnte, gegen den ich unter allen Menschen auf Erden die meiste Liebe und Achtung hatte.

Ich hörte nun den Mönchzeller Prediger, aber welch ein Abstand! Wie langsam er als Redner sprach. Der Lehrer muss langsam, der Redner muss geschwind sprechen. – Der Lehrer soll allmählich den Verstand erleuchten, der Redner unwiderstehlich in das Herz eindringen – mit dem Verstande muss man langsam, mit dem Herzen schnell zu Werke gehen, wenn man seines Zweckes nicht verfehlen will – freilich wird der immer ein schlechter Lehrer sein, der nicht zuweilen Redner wird, und der ein schlechter Redner, der nicht zuweilen Lehrer wird – aber wenn ein guter Redner im Parlamente spricht, so geschieht es mit einer Geschwindigkeit, die ihresgleichen nicht hat, und in diesem brausenden Strome reißt er alles mit sich fort und erschüttert die Seelen seiner Zuhörer, wie es der Pastor Paulmann durch seine Meineidspredigt tat.

Eines Sonntags hörte ich den Pfarrer wieder mit dem größten Widerwillen in der Mönchzeller Kirche predigen, weil derselbe auch nicht die mindeste Ähnlichkeit mit dem Pastor Paulmann hatte, sondern in Ansehung seiner etwas langsamen und bequemen Sprache fast gerade das Gegenteil von ihm war. Ich konnte mich nicht enthalten, da ich zu Hause kam, gegen meine Mutter eine Art von Hass zu äußern, den ich auf diesen Prediger geworfen hatte – aber wie erstaunte ich, als diese mir sagte, dass ich natürlich bei eben diesem Prediger würde zum Religionsunterricht und Beichte und Abendmahl gehen müssen.

Wem hätte ich es geglaubt, dass ich diesen Mann, gegen den ich damals eine unwiderstehliche Abneigung empfand, einmal würde lieben können, dass dieser einmal mein Freund, mein Wohltäter werden würde?

Indes ereignete sich ein Vorfall, der meine Seele, die schon zur Schwermut geneigt war, in eine noch traurigere Stimmung versetzte: meine Mutter wurde tödlich krank und schwebte vierzehn Tage lang in Lebensgefahr. – Was ich dabei empfand, lässt sich nicht beschreiben. – Es war mir, als ob ich in meiner Mutter selbst absterben würde, so innig war mein Dasein mit dem ihrigen verwebt. – Ganze Nächte durch weinte ich oft, wenn ich gehört hatte, dass der Arzt aus Meckesheim die Hoffnung zur Genesung aufgab. – Es war mir, als sei es schlechterdings nicht möglich, dass ich den Verlust meiner Mutter würde ertragen können. – Was war natürlicher, da ich von aller Welt verlassen war und ich mich nur noch in ihrer Liebe und in ihrem Zutrauen wieder fand.

So viel für Heute. Zu den Neuigkeiten:

Heidelberg. Am 31. Mai haben  Mittags um halb 12 Ihre Königlichen Hoheiten der Großherzog und die Großherzogin unter dem Geläute sämtlicher Glocken und dem Donner von Böllerschüssen, auf das Herzlichste begrüßt von der ganzen Einwohnerschaft, ihren Einzug in die festlich geschmückte Stadt Heidelberg gehalten. Das schönste Wetter begünstigte diesen Freudentag und die ganze Ausschmückung Heidelbergs zeugte von der innigsten und aufrichtigsten Liebe und Begeisterung, mit welcher unser Musensitz die großherzogliche Familie in unseren Mauern aufnahm. Das Paar weilte drei Tage in Heidelberg. Der Großherzog dankte herzlich für die vielen ihnen zu Ehren veranstalteten Feierlichkeiten und schloß seine Dankesrede mit dem Spruche „Fröhlich Pfalz, Gott erhalt’s“ und mit einem Hoch auf die Stadt Heidelberg. Der Besuch zog viele Menschen aus nah und fern an und alle Straßen Heidelbergs wimmelten mit Menschen, die insbesondere die Beleuchtung des Schloßgartens und der Schloßruine herbeiglockt hatten, ein Schauspiel, was nur Heidelberg allein gewähren kann. Es herrschte nur eine Stimme, dass wir ein herrliches Fest gefeiert haben, dass die Heidelberger Chronik der Nachwelt als die drei Freudentage Heidelbergs bezeichnen wird.

Baden. Für unseren Tabakhandel ist das Schlimmste zu befürchten Die Cigarrenfabrikation ist einer der wichtigsten Zweige unserer vaterländischen Industrie. Ihr steht ein harter Schlag bevor. Der größte Teil des Fabrikats von Pfälzer Zigarren wird für die Vereinigten Staaten von Nordamerika angefertigt. Der Congreß zu Washington hat den Schutzzoll auf einen halben Dollar per Pfund Cigarren, ohne Rücksicht auf deren Güte, und außerdem 10 pCt. des Wertes angehoben. Damit ist der Ruin für den Pfälzer Tabakshandel und Tabakbau ausgesprochen.

Lobenfeld. Übertragen wurde die evangelische Schulstelle zu Lobenfeld, Bezirks Neckargemünd, dem Unterlehrer Konrad Henrich von Eberbach.[53]

Baden. In vielen Gemeinden beschließen die Ortsbehörden die Errichtung von Feuerwehren. Diese müssen von der großherzoglichen Regierung genehmigt werden. Am 25. Juni sind in Walldorf wieder 2 Häuser und 3 Scheuern abgebrannt.

Sei herzlich gegrüßt

Anton

 

(18,19,20) Liebe Luise, Heidelberg, 1. August 1860

Der Pastor Marquard kam und reichte meiner Mutter das Abendmahl – nun glaubte ich, sei keine Hoffnung mehr, und war untröstlich – ich flehte zu Gott um das Leben meiner Mutter, und mir fiel der König Hiskias ein, der ein Zeichen von Gott erhielt, dass seine Bitte erhört und ihm sein Leben gefristet sei.

Nach einem solchen Zeichen sah itzt auch ich mich um, ob nicht etwa der Schatten an der Mauer im Garten zurückgehen wollte? Und der Schatten schien mir endlich zurückzugehen – denn eine dünne Wolke hatte sich vor der Sonne hingezogen – oder meine Phantasie hatte diesen Schatten zurückgedrängt – aber von dem Augenblick an fasste ich neue Hoffnung; und meine Mutter fing wirklich wieder an zu genesen. Ich lebte nun auch von neuem wieder auf – und tat alles, um mich bei meinen Eltern beliebt zu machen. Allein bei meinem Vater gelang es mir nicht; dieser hatte, seitdem er mich aus Heidelberg wieder abgeholt, einen bittern, unversöhnlichen Hass auf mich geworfen, den er mich bei jeder Gelegenheit empfinden ließ – jede Mahlzeit wurde mir zugezählt, und ich musste oft im eigentlichen Verstande mein Brot mit Tränen essen.

Mein einziger Trost in dieser Lage waren meine einsamen Spaziergänge mit meinen beiden kleineren Brüdern, mit denen ich ordentliche Wanderungen nach Langenzell, Wimmerspach oder Eschelbronn anstellte, indem ich mir immer ein Ziel setzte, nach welchem ich mit ihnen gleichsam eine Reise tat. –

Dies war meine liebste Beschäftigung von meiner frühesten Kindheit an, und als ich noch kaum gehen konnte, setzte ich mir schon ein solches Ziel an einer Ecke der Straße, wo meine Eltern wohnten, welches die Grenze meiner kleinen Wanderungen war.

Ich schuf mir nun den Lobbach, welchen ich entlanglieg, im Reichelsberg, das Gesträuch, durch welches ich mich durcharbeitete, im Mühlwald, und einen kleinen Erdhügel beim Steinbruch in eine Insel um; und so stellte ich mit meinen Brüdern in einem Bezirk von wenigen hundert Schritten oft viele meilenweite Reisen an – ich verlor mich und verirrte mich mit ihnen in Wäldern, erstieg manche Höhen und kam auf unbewohnte Inseln – kurz, ich realisierte mir mit ihnen meine ganze idealische Romanenwelt, so gut ich konnte. –

Zu Hause stellte ich allerlei Spiele mit ihnen an, wobei es oft scharf zuging – ich belagerte Städte, eroberte Festungen, von den Büchern der Madam Guion zusammengebaut, mit wilden Kastanien, die ich wie Bomben darauf abschoss. – Zuweilen predigte ich auch, und meine Brüder mussten mir zuhören. – Das erstemal hatte ich mir denn eine Kanzel von Stühlen zusammengebaut, und meine Brüder saßen vor mir auf Fußschemeln; ich geriet in heftigen Affekt – die Kanzel stürzte ein, ich fiel herunter und zerschlug mit dem Stuhle, worauf ich stand, meinen Brüdern die Köpfe. – Das Geschrei und die Verwirrung war allgemein – indem trat mein Vater herein und fing an, mich für die gehaltene Predigt ziemlich derbe zu belohnen. – Meine Mutter kam dazu und wollte mich den Händen meines Vaters entreißen; da sie das nicht konnte, so nahm ihr Zorn eine ganz entgegengesetzte Richtung, und sie fing nun auch aus allen Kräften an, auf mich zuzuschlagen, dem all mein Flehen und Bitten nichts half. – Nie ist wohl eine Predigt unglücklicher abgelaufen als diese erste Predigt, welche ich in meinem Leben hielt. – Das Andenken an diesen Vorfall hat mich oft noch im Traume erschreckt.

Indes wurde ich dadurch nicht abgeschreckt, noch öfter wieder meine Kanzel zu besteigen und ganze geschriebene Predigten mit Evangelium, Thema und Einteilung abzulesen. – Denn seitdem ich angefangen hatte, zum ersten Mal die Predigt des Pastors Paulmann nachzuschreiben, war es mir auch leichter, meine Gedanken zu ordnen und sie in eine Art von Verbindung miteinander zu bringen.

Kein Sonntag ging hin, wo ich itzt nicht eine Predigt nachschrieb, und ich bekam dadurch bald eine solche Fertigkeit, dass ich das Fehlende dazwischen durch mein Gedächtnis ergänzen und eine Predigt, die ich gehört und die Hauptsachen nachgeschrieben hatte, zu Hause beinahe vollständig wieder zu Papier bringen konnte.

Ich war nun über vierzehn Jahre alt, und es war nötig, dass ich, um konfirmiert oder in den Schoß der christlichen Kirche aufgenommen zu werden, einige Zeit vorher in irgendeine Schule gehen musste, wo Religionsunterricht erteilt wurde.

Nun war in Neckargemünd ein Institut, in welchem junge Leute zu künftigen Dorfschulmeistern gebildet wurden, und womit zugleich eine Freischule verknüpft war, welche den angehenden Lehrern zur Übung im Unterricht diente. Diese Schule war also eigentlich mehr der Lehrer wegen, als dass die Lehrer gerade dieser Schule wegen dagewesen wären, – weil aber die Schüler nichts bezahlen durften, so war diese Anstalt eine Zuflucht für die Armen, welche dort ihre Kinder ganz unentgeltlich konnten unterrichten lassen; und weil mein Vater eben nicht gesonnen war, viel an seinen so ganz aus der Art geschlagenen und aus der göttlichen Gnade gefallenen Sohn zu wenden, so brachte er mich denn endlich in diese Schule, wo ich nun auf einmal wieder eine ganz neue Laufbahn vor mir eröffnet sah.

Es war für mich ein feierlicher Anblick, da ich gleich in der ersten Stunde des Morgens alle die künftigen Lehrer mit den Schülern und Schülerinnen in einer Klasse versammlet sah. – Der Inspektor dieser Anstalt, der ein Geistlicher war, hielt alle Morgen mit den Schülern eine Katechisation, welche den Lehrern zum Muster dienen sollte. – Diese saßen alle an Tischen, um die Fragen und Antworten nachzuschreiben, während dass der Inspektor auf und nieder ging und fragte. In einer Nachmittagsstunde musste denn irgendeiner von den Lehrern in Gegenwart des Inspektors die Katechisation mit den Schülern wiederholen, welche derselbe am Morgen gehalten hatte.

Nun war das Nachschreiben für mich schon eine sehr leichte Sache geworden, und als der Lehrer den Nachmittag die Vormittagslektion wiederholte, so hatte ich sie weit besser als der Lehrer stehend in meiner Schreibtafel nachgeschrieben und konnte also freilich mehr antworten, als jener fragte, welches bei dem Inspektor einige Aufmerksamkeit zu erregen schien, die äußerst schmeichelhaft für mich war.

Allein damit ich mich nun nicht meines Glücks überheben sollte, stand mir am andern Tage eine Demütigung bevor, die beinahe jene in Heidelberg noch übertraf, da ich zum ersten Mal mit dem Tragkorbe auf dem Rücken gehen musste.

Es wurde nämlich in der zweiten Stunde den folgenden Morgen eine Buchstabierübung angestellt, wo einer der Knaben immer eine Silbe erst allein buchstabieren und vorschreien und dann die andern alle, wie aus einem Munde, nachschreien mussten. – Dies Geschrei, wovon einem die Ohren gellten, und diese ganze Übung kam mir wie toll und rasend vor, und ich schämte mich nicht wenig, da ich mir schmeichelte, schon mit Ausdruck lesen zu können, dass ich hier erst wieder anfangen sollte, buchstabieren zu lernen, – aber die Reihe, vorzuschreien, kam bald an mich, denn dies ging wie ein Lauffeuer herum; und nun saß ich und stockte, und die ganze schöne Musik geriet auf einmal aus dem Takt. – »Nun fort!« sagte der Inspektor, und als es nicht ging, sah er mich mit einem Blick der äußersten Verachtung an und sagte: »Dummer Knabe!« und ließ den folgenden weiter buchstabieren. – Ich glaubte in dem Augenblick vernichtet zu sein, da ich mich plötzlich in der Meinung eines Menschen, auf dessen Beifall ich schon so viel gerechnet hatte, so tief herabgesunken sah, dass dieser mir nicht einmal mehr zutrauete, dass ich buchstabieren könne.

War ehemals in Heidelberg mein Körper durch die Bürde, die ich trug, unterjocht worden, so wurde es itzt noch weit mehr mein Geist, der unter der Last erlag, mit welcher die Worte ›dummer Knabe!‹ von dem Inspektor auf mich fielen.

Allein, diesmal galt bei mir, was vom Themistokles erzählt wird, da dieser auch einmal in seiner Jugend einen öffentlichen Schimpf erlitt: non fregit eum, sed erexit. – Ich strengte mich seit dem Tage, an welchem ich diese Demütigung erlitt, noch zehnmal mehr als vorher an, mich bei meinen Lehrern in Achtung zu setzen, um den Inspektor, der mich so verkannt hatte, gleichsam einst zu beschämen und ihm über das Unrecht, das ich von ihm erlitten hatte, Reue zu erwecken.

Der Inspektor trug alle Morgen in den Frühstunden den Lehrbegriff der lutherischen Kirche ganz dogmatisch mit allen Widerlegungen der Papisten sowohl als der Reformierten vor. – Mein Kopf wurde dadurch freilich mit vielem unnützem Zeuge angefüllt, aber ich lernte doch Hauptabteilungen und Unterabteilungen machen, ichlernte systematisch zu Werke gehen.

Meine nachgeschriebenen Hefte wuchsen immer stärker an, und in weniger als einem Jahre besaß ich eine vollständige Dogmatik mit allen Beweisstellen aus der Bibel und einer vollständigen Polemik gegen Heiden, Türken, Juden, Griechen, Papisten und Reformierten verknüpft – ich wusste von der Transsubstantiation im Abendmahl, von den fünf Stufen der Erhöhung und Erniedrigung Christi, von den Hauptlehren des Alkorans und den vorzüglichsten Beweisen der Existenz Gottes gegen die Freigeister wie ein Buch zu reden.

Und ich redete nun auch wirklich wie ein Buch von allen diesen Sachen. Ich hatte nun reichen Stoff zu predigen, und meine Brüder bekamen alle die nachgeschriebenen Hefte von der halsbrechenden Kanzel in der Stube wieder von mir zu hören.

Zuweilen wurde ich des Sonntags zu einem Vetter eingeladen, bei welchem eine Versammlung von Handwerksburschen war, hier musste ich mich vor den Tisch stellen und in dieser Versammlung eine förmliche Predigt mit Text, Thema und Einteilung halten, wo ich denn gemeiniglich die Lehre der Papisten von der Transsubstantiation oder die Gottesleugner widerlegte, mit vielem Pathos die Beweise für das Dasein Gottes nacheinander aufzählte und die Lehre vom Ohngefähr in ihrer ganzen Blöße darstellte.

Nun war die Einrichtung in Neckargemünd, wo ich unterrichtet wurde, dass die erwachsenen Leute, welche zu Schulmeistern gebildet wurden, sich des Sonntags in allen Kirchen der Umgebung verteilen und die Predigten nachschreiben mussten, die sie dann dem Inspektor zur Durchsicht brachten. – Ich fand also jetzt noch einmal so viel Vergnügen am Predigtnachschreiben, da ich sah, dass ich auf die Art mit meinen Lehrern einerlei Beschäftigung trieb, und diese, denen ich nun die Predigten zeigte, bewiesen mir immer mehr Achtung und begegneten mir beinahe wie ihresgleichen.

 

Dass der Weg nach Neckargemünd weit und beschwerlich war und ist, weißt du ja selber. Wie oft ging ich morgens den Neckargemünder Weg im Dunklen und hörte die Wildsauen im Wald.

 

Zu den Nachrichten:

Heidelberg. Die Arbeiten an der neuen nach Mosbach führenden Eisenbahn schreiten längs Heidelberg so rasch vorwärts, als die Verhältnisse es immer gestatten. Zwischen der Gerberei von Kühner und dem Karlsthor bietet jedoch der harte Granit bedeutende Schwierigkeiten an den Arbeiten des Tunnels dar. Endlich ist zu bemerken, dass außerhalb des Karlsthores längs dem Neckarufer hin bereits große Anschüttungen durch den aus den Tunnels gewonnenen Massen erfolgt sind. Nächstens soll auch die Expropriation auf Schlierbacher Gemarkung bis Neckargemünd fortgesetzt werden. Wird, was dem Vernehmen nach geschieht, ebenso rüstig zwischen Aglasterhausen und Neckarelt gearbeitet, so kann die kann die ganze Bahnlinie zwischen Heidelberg und Mosbach in zwei Jahren hergestellt sein.

Neckargemünd. Freitag, den 13. Juli 1860, morgens 9 Uhr wird auf der Baustelle im Gumpenthal bei Neckargemünd die Herstellung einer 3000 Fuß langen, 12 Fuß hohen Stützmauer, längs der Eisenbahnlinie im Gumpenthal (Ortseingang von Neckargemünd von Heidelberg her kommend) in schlicklichen Loosabtheilungen an die Wenigstnehmenden vergeben. Hierbei wird  bemerkt, dass der Steigerer das zur Herstellung der Mauer erforderliche Matierial, als Sand, Kalk und Steine, frei auf die Baustelle geliefert wird. Ferner, dass auf der Baustelle eine Hütte eingerichtet ist, worin sämtliche Steigerer mit ihren Arbeitern unentgeltlich schlafen können und haben dieselben ihre Bettung, Strohsack, mitzubringen. Weiter ist daselbst eine Menage errichtet, wo der Arbeiter die Kost, bestehend in Morgens 2 Schoppen Suppe, Mittags 1 Schoppen Suppe, 1 Schoppen Gemüse und 12 Loth Fleisch roh gewogen und Abends 2 Schoppen suppe zu dem Preis von 15 kr. per Mann, täglich, ohne Brod, erhalten kann. Heidelberg, den 5. Juli 1860, Großh. Eisenbahn-Inspektion Dyckerhoff.

Bei der Sonnenfinsternis vom 18. Juli wird die Sonne in unserer Gegend zwar nicht ganz, aber nahezu vollständig verfinstert sein. Sie beginnt nach angabe des Astronomen Dr. Schönfeld zu Mannheim nachmittags 2 Uhr 26 Min. 32 Sec. Und endet 4 Uhr 34 Min. 12 Sec. Auf dem europäischen Festland ist sie nur für einen Theil von Spanien ein totale; zu ihrer Beobachtung haben sich zahlreiche Astronomen aus verschiedenen Ländern Europas dorthin begeben. Man ist in der gelehrten Welt auf die Resultate der Beobachtung sehr gespannt.

Gaiberg. Erledigt ist die Hauptlehrerstelle an der evangelischen Schule in Gaiberg, Bezirk Neckargemünd, mit dem Normalgehalt 1. Classe, freie Wohnung und 1 fl. 12 kr. Schulgeld von etwa 60 Schülern. Ebenso die Schulstelle an der evangelischen Schule in Schönbrunn, Bezirk Neckargemünd, mit dem Normalgehalt 1. Classe, freie Wohnung und 1 fl. 12 kr. Schulgeld von etwa 50 Schülern.

Balzfeld. An der hießigen Kirche und den Pfarrgebäuden wurden Arbeiten versteigert.

 

(21) Liebe Luise, Heidelberg, 31. August 1860

 

lass mich fortfahren:

Ich bekam am Ende  einen dicken Band nachgeschriebener Predigten zusammen, die ich nun als meinen großen Schatz betrachtete, und worunter mir insbesondere zwei wahre Kleinodien zu sein schienen: die eine handelte vom jüngsten Gericht. – Mit wahrem Entzücken plagte und langweilte ich mit dieser Neckargemünder Predigt oft meine Mutter, der ich sich sie immer wieder vortrug. In der Predigt wurden die Zerstörung der Elemente, das Krachen des Weltbaues, das Zittern und Zagen des Sünders, das fröhliche Erwachen der Frommen in einem Kontrast dargestellt, der die Phantasie bis auf den höchsten Grad erhitzte – und dies war eben meine Sache. Ich liebte die kalten Vernunftpredigten nicht. Die zweite Predigt, welche ich unter allen vorzüglich schätzte, war eine Abschiedspredigt eines Pastors worin derselbe fast vom Anfange bis zu Ende durch Tränen und Schluchzen unterbrochen wurde, so beliebt war er bei seiner Gemeine. Das rührende Pathos, womit diese Rede wirklich gehalten wurde, machte auf mein Herz einen unauslöschlichen Eindruck, und ich wünschte mir keine größere Glückseligkeit, als einmal auch vor einer solchen Menge von Menschen, die alle mit mir weinten, eine solche Abschiedsrede halten zu können.

Bei so etwas war ich in meinem Elemente und fand ein unaussprechliches Vergnügen an der wehmütigen Empfindung, worin ich dadurch versetzt wurde. Niemand hat wohl mehr die Wonne der Tränen empfunden als ich bei solchen Gelegenheiten. Eine solche Erschütterung der Seele durch eine solche Predigt war mir mehr wert als aller andere Lebensgenuss, ich hätte Schlaf und Nahrung darum gegeben.

Auch das Gefühl für die Freundschaft erhielt jetzt bei mir neue Nahrung. Ich liebte einige von meinen Lehrern im eigentlichen Verstande und empfand eine Sehnsucht nach ihrem Umgange – insbesondre äußerte sich meine Freundschaft gegen einen derselben namens R…, der dem äußeren Anschein nach ein sehr harter und rauher Mann war, in der Tat aber das edelste Herz besaß, was nur bei einem künftigen Dorfschulmeister gefunden werden kann.

Bei diesem hatte ich doch eine Privatstunde im Rechnen und Schreiben, welche mein Vater für mich bezahlte – denn Rechnen und Schreiben war noch das einzige, welches dieser für mich zu lernen der Mühe wert hielt. – R… ließ mich denn bald, weil ich schon orthographisch schrieb, eigne Ausarbeitungen machen, die seinen Beifall erhielten, welcher für mich so schmeichelhaft war, dass ich mich endlich erkühnte, diesem Lehrer mein Herz zu entdecken und so offenherzig und freimütig mit ihm zu sprechen, wie ich lange mit niemandem hatte sprechen dürfen.

Ich entdeckte ihm also meine unüberwindliche Neigung zum Studieren und die Härte meines Vaters, die mich davon abhielte, und der mich nichts als ein Handwerk wolle lernen lassen. Der raue R… schien über dies Zutrauen gerührt zu sein und sprach mir Mut ein, mich dem Inspektor zu entdecken, der mir vielleicht noch eher zu meinem Endzweck würde behilflich sein können. Das war nun eben der Inspektor, welcher zu mir, da ich beim Buchstabieren nicht vorschreien wollte, mit der verächtlichsten Miene »dummer Knabe!« gesagt hatte, welches ich noch nicht vergessen konnte und also noch lange Bedenken trug, einem solchen Manne meine Neigung zum Studieren zu entdecken, der gezweifelt hatte, ob ich auch buchstabieren könne.

Indes nahm die Achtung, worin ich mich in dieser Schule setzte, von Tage zu Tage zu, und ich erreichte meinen Wunsch, hier der erste zu sein und die meiste Aufmerksamkeit auf mich gerichtet zu sehn. Dies war freilich eine solche Nahrung für meine Eitelkeit, dass ich mich oft schon im Geist als Prediger erblickte, insbesondere, wenn ich schwarze Unterkleider trug – dann trat ich mit einem gravitätischen Schritt und ernsthafter als sonst einher. –

Am Ende der Woche des Sonnabends wurde immer, nachdem vorher das Lied ›Bis hieher hat mich Gott gebracht‹ gesungen war, von einem der Schüler ein langes Gebet gelesen, – wenn dies an mich kam, so war das ein wahres Fest für mich – ich dachte mich auf der Kanzel, wo ich noch während der letzten Verse des Gesanges meine Gedanken sammelte und nun auf einmal wie der Heidelberger Pastor Paulmann mit aller Fülle der Beredsamkeit in ein brünstiges Gebet ausbrach. – Meine Deklamation bekam also für einen Schulknaben freilich zu viel Pathos, als dass dieses nicht hätte auffallend sein sollen. Der Lehrer ließ mich also nur selten das Gebet lesen. –

Ja, es entstand zuletzt sogar eine Art von Neid gegen mich bei den Lehrern. – Einer derselben stellte eine Übung an, wo eine von Hübners biblischen Historien von den Schülern mit eigenen Worten musste wiedererzählt werden. Ich schmückte diese Historie mit aller meiner Phantasie auf eine poetische Art aus und trug sie mit einer Art von rednerischem Schmuck wieder vor – das beleidigte den Lehrer, der am Ende die Bemerkung machte, ich solle kürzer erzählen. Das nächste Mal fasste ich also die ganze Erzählung in ein paar Worte zusammen und war in zwei Minuten damit fertig. – Das war dem Lehrer wieder zu kurz und brachte ihn aufs Neue auf – endlich ließ er mich gar keine Historien mit eigenen Worten mehr erzählen. – Des Nachmittags fürchteten sich die Lehrer, welche die Katechisation wiederholten, mich zu fragen, weil ich immer mehr als sie nachgeschrieben hatte – ich konnte also gar nicht einmal mehr dazu kommen, meine Fähigkeiten zu zeigen, welches doch mein höchster Wunsch war, um Aufmerksamkeit auf mich zu erregen.

Voller Unwillen darüber, dass ich immer ungefragt und stumm dasitzen musste, ging ich endlich einmal mit tränenden Augen zum Inspektor, der mich in den Morgenstunden nun auch öfter gefragt hatte und sein Urteil über mich geändert zu haben schien, – dieser fragte mich, was mir fehle, ob mir etwa von einem meiner Mitschüler Unrecht geschehen sei, und ich antwortete: nicht von meinen Mitschülern, sondern von meinen Lehrern sei mir Unrecht geschehen, diese vernachlässigten mich, und niemand fragte mich mehr, wenn ich gleich die Sache besser als andre wüsste. Hierin möchte man mir doch Recht verschaffen!

Der Inspektor suchte mir das auszureden und entschuldigte die Lehrer mit der Menge der Schüler, von der Zeit an aber fing er an, selbst aufmerksamer auf mich zu werden, und fragte mich des Morgens in der Frühstunde öfter als sonst.

In einer Stunde wöchentlich wurde eine Übung mit den Psalmen angestellt, wo ein jeder der Schüler sich Lehren heraus ziehen musste; diese wurden auf ein Blatt Papier oder eine Rechentafel geschrieben und dann abgelesen, wobei mancher stark zu schwitzen pflegte. – Der Inspektor war dabei. Ich schrieb nichts auf. Als aber die Reihe an mich kam, ging ich den ganzen Psalm durch und hielt eine ordentliche Abhandlung oder Predigt darüber, die fast eine halbe Stunde dauerte, so dass der Inspektor selbst am Ende sagte: es sei nun genug; –  ich solle den Psalm nicht eigentlich erklären, sondern nur einige moralische Lehren herausziehen.

Auf die Weise ging beinahe ein Jahr hin, wo ich so außerordentliche Fortschritte in meinem Fleiß tat und mich so untadelhaft betrug, dass ich meinen Zweck, Aufmerksamkeit auf mich zu erregen, im höchsten Grade erreichte, indem ich mir sogar den Neid meiner Lehrer zuzog.

Nun stand ich aber auch auf dem entscheidenden Punkte, wo ich irgendeine Lebensart wählen sollte, und die Härte meines Vaters, der nun daran arbeitete, mich bald loszuwerden, nahm von Tage zu Tage gegen mich zu, so dass die Neckargemünder Schule gleichsam ein sicherer Zufluchtsort für mich vor der Bedrückung und Verfolgung zu Hause in Mönchzell war.

Mein geliebter Lehrer R… wurde indes zu einem Dorfschulmeister befördert, und nun hatte ich keinen eigentlichen Freund mehr unter meinen Lehrern. – Dieser riet mir bei seinem Abschiede noch einmal, mich geradezu an den Inspektor zu wenden – und weil es nun ohnedem die höchste Zeit war, irgendeinen Entschluss zu fassen, so wagte ich es eines Tages mit klopfendem Herzen, den Inspektor um Gehör zu bitten, weil ich ihm etwas Wichtiges zu sagen hätte. – Dieser nahm mich mit auf seine Stube, und hier wurde ich freimütiger, erzählte ihm meine Schicksale und entdeckte ihm mein ganzes Herz. – Der Inspektor schilderte mir die Schwierigkeiten, die Kosten des Studierens, benahm mir aber demohngeachtet nicht alle Hoffnung, sondern versprach, sich wo möglich für mich zu verwenden, dass ich unentgeltlich eine lateinische Schule besuchen könnte – indes war das alles sehr weit aussehend, weil ich von meinen Eltern zu meiner Unterstützung gar nichts, nicht einmal Wohnung und Nahrung hoffen durfte, indem mein Vater noch sechs Meilen hinter Mönchzell eine kleine Bedienung erhalten hatte und also in kurzem ganz aus Mönchzell wegziehen musste.

Indessen hatte der Inspektor mit dem Konsistorialrat Götten, unter dessen Direktion das Schulmeisterinstitut stand, meinetwegen geredet, und dieser ließ mich zu sich kommen. – Der Anblick dieses ehrwürdigen Greises schlug zuerst meinen Mut darnieder, und meine Knie bebten, da ich vor ihm stand – als mich aber der Greis leutselig bei der Hand fasste und mit sanfter Stimme anredete, fing ich an, freimütig zu sprechen und meine Neigung zum Studieren zu entdecken. – Der Konsistorialrat Götten ließ mich darauf eine von Gellerts geistlichen Oden laut lesen, um zu hören, wie meine Ausrede und Stimme beschaffen sei, wenn ich mich dereinst dem Predigtamt widmen wollte. – Darauf versprach er, mir freien Unterricht zu verschaffen und mich mit Büchern zu unterstützen; das sei aber auch alles, was er für mich tun könne. – Ich war so voller Freuden über dieses Anerbieten, dass meine Dankbarkeit gar keine Grenzen hatte, und ich nun alle Berge auf einmal überstiegen zu haben glaubte. Denn dass ich außer freiem Unterricht und Büchern auch noch Nahrung, Wohnung und Kleider brauche, fiel mir gar nicht ein.

Triumphierend eilte ich nach Haus und verkündigte meinen Eltern mein Glück. – Aber wie sehr wurde meine Freude niedergeschlagen, da mein Vater mir ganz kaltblütig sagte: ich dürfe, wenn ich studieren wolle, auf keinen Heller von ihm rechnen – wenn ich mir also selbst Brot und Kleider zu verschaffen imstande sei, so habe er gegen mein Studieren weiter nichts einzuwenden. – In einigen Wochen würde er von Mönchzell wegreisen, und wenn ich alsdann noch bei keinem Meister wäre, so möchte ich sehen, wo ich unterkäme und nach Gefallen abwarten, ob einer von den Leuten, die mir das Studieren so eifrig anrieten, auch für meinen Lebensunterhalt sorgen würde.

Traurig und tiefsinnig ging ich jetzt umher und dachte meinem Schicksal nach. – Der Gedanke zu studieren war fest in meiner Seele, und sollten sich mir auch noch weit mehr Schwierigkeiten in den Weg setzen – mancherlei Projekte durchkreuzten sich in meinem Kopfe. – Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass es einst in Griechenland einen lehrbegierigen Jüngling gab, der für seinen Unterhalt Holz haute und Wasser trug, um die Zeit, die ihm noch übrig blieb, dem Studieren widmen zu können. – Diesem Beispiele wollte ich folgen und war oft schon willens, mich als Tagelöhner auf gewisse Stunden zu verdingen, um die übrige Zeit zu meinem freien Gebrauch zu haben – dann konnte ich aber wieder die Schulstunden nicht ordentlich abwarten – so machte mich all mein Nachdenken und Überlegung immer nur noch tiefsinniger und unentschlossener. Indes rückte der entscheidende Zeitpunkt immer näher heran, wo ich meinen Entschluss fassen musste. – ich sollte nun die Schule, die ich bisher besucht hatte, verlassen, um noch eine Zeitlang in die Heidelberger Garnisonschule zu gehen, weil ich von dem Garnisonprediger Marquard konfirmiert werden sollte, dessen Vorbereitungs- und Katechisationsstunden ich itzt schon zu besuchen anfing, und der wegen meiner Antworten aufmerksam auf mich geworden war. Allein ich würde es von selbst nie gewagt haben, diesem Mann, zu welchem ich zuerst gar kein Zutrauen fassen konnte, den Kummer meiner Seele zu entdecken.

Da sich nun für mich keine solide Aussicht zum Studieren eröffnen wollte, so würde ich doch am Ende wahrscheinlich den Entschluss haben fassen müssen, irgendein Handwerk zu lernen, wenn nicht wider Vermuten ein sehr geringfügig scheinender Umstand meinem Schicksal in meinem ganzen künftigen Leben eine andre Wendung gegeben hätte. Davon im nächsten Brief.

 

Hier die Nachrichten:

Die mittleren Fruchtpreise für das Malter aus Bruchsal vom 1. August:

Weizen 15 fl. 12 kr.,
a. Kernen 15 fl. 6 kr., n. 14 fl. 35 kr., Korn 10 fl. 2 kr.,
gem. Frucht 10 fl. 56 kr.,
Haber 5 fl. 37 kr.

 

Heidelberg. Das Großherzogliche Oberamt machte bekannt, dass in Heidelberg die Masern unter den Kindern ausgebrochen sind und die Epidemie schon sehr verbreitet ist. Es wurde eine Belehrung zur öffentlichen Kenntnis gebracht und die Herren Ärzte ersucht, von 8 zu 8 Tagen über die ihnen etwa vorkommenden Fälle dem Großherzoglichen Amtsarzte summarische Vorlage zu machen.

 

Deutschland. Schwarz-Rot-Gold als deutsches Feldzeichen. Die deutsche Nation, von der Nordsee und den baltischen Gestaden bis tief in die Alpentäler hinein, vermisst noch immer schmerzlich ein äußeres, sicht- und greifbares Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit und Größe: eine deutsche Fahne und Flagge. Das Nationalgefühl ist stark und will ein starkes Deutschland, es verlangt auch ein ein deutsches Banner. Ich halte es für einen Fehler, dass man die schwarz-rot-goldene Fahne und Flagge beseitigte. Es war ein leidiger Irrtum, dieselbe für ein Sinnbild der Revolution, der Auflehnung, der roten Demokratie und dergleichen mehr zu halten. Wer den Umsturz wollte, hatte ja zum Symbol die blutrote Fahne. Um das Schwarz-Rot-Gold scharte sich alles, was nach zeitgemäßer Entwicklung in den deutschen Verhältnissen strebte. Es kann niemand entgehen, dass für Deutschland ein Krieg in Aussicht steht, wenn der Bann des Napoleonismus einmal zerbrochen werden soll. Das deutsche Bundesheer, als Wehrkraft des gesamten Vaterlandes, muss als unzertrennliche Einheit unter einer Fahne ins Feld geführt werden. Diese wird schwarz-rot-gold sein und keine Demütigung für die einzelnen deutschen Staaten sein.

 

Heidelberg. Die Feldpolizeiordnung wurde um folgende Vorschriften ergänzt und erneuert: Wer Obst unter einem fremden Baume aufliest, wird um fl 1. 30 kr. Gestraft und hat für jedes Stück, in dessen Besitz er getroffen wird folgenden Ersatz an den Eigentümer zu leisten: für jeden Apfel 6 kr., für jede Birne 6 kr., für Nüsse, Zwetschen oder sonstiges Obst von jedem Stück 3 kr. Außerdem hat er zusätzlich eine doppelten Betrage gleichkommende Geldstrafe zu bezahlen. Wer also z.B. 6 Äpfel entwendet, hat 36 kr. Schadensersatz und fl. 1 12 kr. Strafe zu zahlen.

 

Heidelberg. Im Gegensatz zu der allgemeinen Klage über Faulheit im Handel und Gewerbe, ist es erfreulich, dass sich hier wenigstens das Vertrauen auf die gegenwärtige Situation in einem sehr wesentlich Punkte kundbar macht. Der Wert der Liegenschaften und namentlich der Häuser ist in Heidelberg sehr gestiegen, während vor zwei Jahren noch der der Grundstücke überwiegend vorherrschend war. Seit Menschengedenken war kein solcher Kauf in Häusern wie in letzter Zeit. Das Plittsche Besitztum zum Beispiel unmittelbar unterhalb des Schlosses gelegen wurde für 38.000 fl. an den k.k. österreichischen Generalkonsul zu Amsterdam, Herrn Krieger, einen geborenen Heidelberger, auf den die Stadt Heidelberg sehr stolz sein kann, verkauft.

 

Neckargemünd. In diesen Tagen zirkuliert in Neckargemünd, Wiesloch und Heidelber eine Petition an die hohe zweite Kammer, welche um die Verwendung für Erlassung einer allgemeinen Amnestie für die politischen Flüchtlinge Badens nachsucht. Es ist dies ein schönes Zeugnis für die Gesinnungen der Bürgerschaft und sie wird gewisst in allen anderen Städten des Großherzogtums Baden Anklang und Nachahmung finden. Es würden damit die letzten schmerzlichen Erinnerungen an die Drangsalsperiode der Revolution von 1849/49 verwischt werden, die nun gänzlich der Vergangenheit angehört und mit keiner Spur mehr in die Gegenwart hereinragen sollte. Möge die Zeit nicht ferne sein, wo kein Deutscher mehr unfreiwillig als Flüchtling in der Fremde umher zu irren genötigt ist, damit der Stunde der Gefahr dem Vaterland keiner seiner Söhne fehle.

 

Für den fatalen Sommer meinte ein Wetterprophet zu mir, möchte uns ein langer und schöner Herbst entschädigen. Er will dies auch aus mancherlei Anzeichen schließen, z.B. daraus, dass in den bisherigen Nächten die Frösche, wie im Frühjahr sich hören lassen, dass die Schwalben noch einmal brüten, dass der Kuckuck im letzten Drittel des Monats August noch gerufen hat, ebenso, dass die Wachtel noch immer ihren Ruf hören lässt, wiewohl die Getreidefelder zum größten Teile leer sind.

 

Walldorf. Das Gewitter vom 27.8. hat in Walldorf einen großen Schaden angerichtet, indem ein Blitzstrahl, ohne zu zünden, den Turm der neuen Kirche einriss und, vereint mit dem wütenden Sturmwind, denselben auf das Kirchendach warf, so dass auch dieses nunmehr wieder unbrauchbar geworden ist.

Liebe Grüße

Dein Anton

 

(22/23) Liebe Luise, Heidelberg den 30. Sept. 1860

Um nicht ein schiefes Urteil bei dir hervorzurufen, sehe ich mich genötigt Dir, zu erklären, dass meine Briefe an Dich im eigentlichsten Verstande meine Biographie sind und zwar eine so wahre und getreue Darstellung meines Lebens bis auf seine kleinste Nuancen,  als es vielleicht nur irgendeine geben kann.

Ich bitte Dich, stoße Dich nicht an dem anfänglich unbedeutend und unwichtig Scheinenden. Ziehe vielmehr in Erwägung, dass dies künstlich verflochtene Gewebe meines Lebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden, so unbedeutend sie an sich scheinen.

Wer auf sein vergangenes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerissene Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerissenen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich – und das Misstönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf.

Nun aber weiter in meiner Lebensschilderung:

Der Umstand, wodurch mein Schicksal unvermutet eine glücklichere Wendung nahm, war: dass ich mich auf der Straße mit ein paar Jungen balgte, die mit mir aus der Schule kamen und mich unterwegs geneckt hatten, welches ich nicht länger leiden wollte; indem ich mich nun mit ihnen bei den Haaren herumzauste, kam auf einmal der Pastor Marquard dahergegangen – und wie groß war nun meine Beschämung und Verwirrung, da ihn die beiden Jungen selbst zuerst aufmerksam darauf machten und mir mit einer Art von Schadenfreude den Zorn vorstellten, den nun der Pastor Marquard auf mich werfen würde.

Was? – ich will einst selbst solch ein ehrwürdiger Mann werden, wie dieser daher kommt – wünsche, dass mir das jetzt schon ein jeder ansehen soll, damit sich irgendeiner findet, der sich meiner annimmt und mich aus dem Staube hervorzieht, und muss nun in der Stellung von diesem Manne überrascht werden, bei dem ich konfirmiert werden soll, wo ich Gelegenheit hätte, mich in meinem besten Lichte zu zeigen? – Dieser Mann, was wird er nun von mir denken, wofür wird er mich halten?

Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf und bestürmten mich auf einmal so sehr mit Scham, Verwirrung und Verachtung meiner selbst, dass ich glaubte in die Erde sinken zu müssen. – Aber ich ermannte mich, das Selbstzutrauen arbeitete sich unter der erstickenden Scham wieder hervor und flößte mir  zugleich Mut und Zutrauen gegen den Pastor Marquard ein – ich fasste mir schnell ein Herz, ging geradewegs auf den Pastor Marquard zu und redete ihn auf öffentlicher Straße an, indem ich zu ihm sagte, ich sei einer von den Knaben, die bei ihm zur Kinderlehre gingen, und der Pastor Marquard möchte doch deswegen keinen Zorn auf mich werfen, dass ich mich eben jetzt mit den beiden Jungen dort geschlagen hätte, dies wäre sonst gar meine Art nicht; die Jungen hätten mich nicht zufrieden gelassen: und es sollte nie wieder geschehen. –

Dem Pastor Marquard war es sehr auffallend, sich auf der Straße von einem Knaben auf die Weise angeredet zu sehen, der sich eben mit ein paar andern Buben herumgebalgt hatte. – Nach einer kleinen Pause antwortete er: es sei freilich sehr unrecht und unschicklich, sich zu balgen, indes hätte das weiter nichts zu sagen, wenn ich es künftig unterließe; darauf erkundigte er sich auch nach meinem Namen und Eltern, fragte mich, wo ich bis jetzt in die Schule gegangen wäre usw., und entließ mich sehr gütig. – Wer war aber froher als ich, und wie leicht war mir ums Herz, da ich mich nun wieder aus dieser gefährlichen Situation herausgewickelt glaubte!

Und wie viel froher würde ich noch gewesen sein, hätte ich gewusst, dass dieser ungefähre Zufall allen meinen ängstlichen Besorgnissen ein Ende machen und die erste Grundlage meines künftigen Glücks sein würde. – Denn von dem Augenblick an hatte der Pastor Marquard den Gedanken gefasst, sich näher nach mir zu erkundigen und sich seiner tätig anzunehmen, weil er nicht ohne Grund vermutete, dass, sobald mein Betragen gegen ihn nicht Verstellung war, es keine gemeine Denkungsart bei mir voraussetzte – und dass es nicht Verstellung war, dafür schien ihm meine Miene zu bürgen, wie er mir später anvertraute.

Den Sonntag darauf fragte mich der Pastor Marquard des Nachmittags in der Kinderlehre öfter wie sonst; und ich hatte nun schon gewissermaßen einen meiner Wünsche erreicht, in der Kirche vor dem versammelten Volke wenigstens auf irgendeine Art öffentlich reden zu können, indem ich die Katechismusfragen des Pastors mit lauter und vernehmlicher Stimme beantwortete, wobei ich mich denn sehr von den übrigen unterschied, indem ich richtig akzentuierte, da jene ihre Antworten in dem gewöhnlichen singenden Ton der Schulknaben herbeteten.

Nach geendigter Kinderlehre winkte mich der Pastor Marquard beiseite und entbot mich auf den andern Morgen zu sich – welch eine freudige Unruhe bemächtigte sich nun auf einmal meiner Gedanken, da es schien, als ob sich irgendein Mensch einmal näher um mich bekümmern wollte – denn damit schmeichelte ich mir nun freilich, dass der Pastor Marquard durch seine Antworten aufmerksam auf mich geworden sei; und ich nahm mir nun auch vor, Zutrauen zu diesem Manne zu fassen und ihm alle meine Wünsche zu entdecken.

Als ich nach einer fast schlaflosen Nacht den andern Morgen zu dem Pastor Marquard kam, fragte mich dieser zuerst, was für einer Lebensart ich mich zu widmen dächte, und bahnte mir also den Weg zu dem, was ich schon selbst vorzubringen im Sinn hatte. – Ich entdeckte ihm mein Vorhaben. – Der Pastor Marquard stellte mir die Schwierigkeiten vor, sprach mir aber doch auch zugleich wieder Mut ein und machte den Anfang zur tätigen Ermunterung damit, dass er versprach, mich durch seinen einzigen Sohn, der die erste Klasse des Lyzeums in Heidelberg besuchte, in der lateinischen Sprache unterrichten zu lassen, womit auch noch in derselben Woche der Anfang gemacht wurde.

Bei dem allen glaubte ich in den Mienen und dem Betragen des Pastor Marquard zu lesen, dass er noch irgend etwas Wichtiges zurückbehielte, welches er mir zu seiner Zeit sagen würde; in dieser Vermutung wurde ich noch mehr durch die geheimnisvollen Ausdrücke des Garnisonküsters bestärkt, dessen Lehrstunden ich noch besuchte, und der mir immer einen Stuhl setzte, wenn ich kam, indes die andern auf Bänken saßen. – Dieser pflegte denn wohl, wenn die Stunde aus war, zu mir zu sagen: Sein Sie ja recht auf Ihrer Hut und denken Sie, dass man genau auf Sie achtgibt. – Es sind große Dinge mit Ihnen im Werke! und dergleichen mehr, wodurch nun ich freilich anfing, mich eine wichtigere Person als bisher zu glauben, und meine kleine Eitelkeit mehr wie zu viel Nahrung erhielt, die sich denn oft töricht genug in meinem Gange und in meinen Mienen äußerte, indem ich manchmal in meinen Gedanken mit allem Ernst und der Würde eines Lehrers des Volks auf der Straße einhertrat, wie ich dies schon in Heidelberg getan hatte, besonders wenn ich schwarze Weste und Beinkleider trug. Bei meinem Gange hatte ich mir den Gang eines jungen Geistlichen, der damals Lazarettprediger in Heidelberg und zugleich Konrektor am Lyzeum war, zum Muster genommen, weil dieser in der Art sein Kinn zu tragen etwas hatte, das mir ganz besonders gefiel.

Nie kann wohl jemand in irgendeinem Genuss glücklicher gewesen sein, als ich es damals in der Erwartung der großen Dinge war, die mit mir vorgehen sollten. – Dies erhitzte meine Einbildungskraft bis auf einen hohen Grad. Und da nun der Zeitpunkt immer näher heranrückte, wo ich zum Abendmahl sollte gelassen werden, so erwachten auch alle die schwärmerischen Ideen wieder, die ich mir schon in Heidelberg von dieser Sache in den Kopf gesetzt hatte, wozu noch die Lehrstunden des Garnisonküsters kamen, der denjenigen, die er zum Abendmahl vorbereiten half, dabei Himmel und Hölle auf eine so fürchterliche Art vorstellte, dass seinen Zuhörern oft Schrecken und Entsetzen ankam, welches aber doch mit einer angenehmen Empfindung verknüpft war, womit man das Schreckliche und Fürchterliche gemeiniglich anzuhören pflegt, und er empfand dann wieder das Vergnügen, seine Zuhörer so erschüttert zu haben, welches ihm wonnevolle Tränen auspresste, die den ganzen Auftritt, wenn er so des Abends in der erleuchteten Schulstube zwischen uns stand, noch feierlicher machten.

Auch der Pastor Marquard hielt wöchentlich einige Stunden, worin er diejenigen von uns, die zum Abendmahl gehen sollten, vorbereitete; aber das, was er sagte, kam lange nicht gegen die herzerschütternden Anreden seines Küsters, ob es mir gleich zusammenhängender und besser gesagt zu sein schien. – Nichts war für mich schmeichelhafter, als da der Pastor Marquard einmal den Begriff, dass die Gläubigen Kinder Gottes sind, durch das Beispiel erklärte, wenn er mit irgendeinem aus der Zahl seiner jungen Zuhörer genauer umginge, ihn besonders zu sich kommen ließe und sich mit ihm unterredete, dieser ihm denn auch näher als die übrigen wäre, und so wären die Kinder Gottes ihm auch näher als die übrigen Menschen. Nun glaubte ich unter der Zahl meiner Mitschüler der einzige gewesen zu sein, auf den der Pastor Marquard aufmerksamer als auf alle übrigen wäre, – allein so schmeichelhaft auch dies für meine Eitelkeit war, so erfüllte es mich doch bald nachher wieder mit einer unbeschreiblichen Wehmut, dass nun alle die übrigen an diesem Glück, das mir allein geworden war, nicht teilnehmen sollten und von dem nähern Umgange mit dem Pastor Marquard gleichsam auf immer ausgeschlossen sein sollten. – Eine Wehmut, die ich mich schon in meinen frühesten Kinderjahren einmal empfunden zu haben erinnerte, da mir meine Base in einem Laden ein Spielzeug gekauft hatte, das ich in Händen trug, als ich aus dem Hause ging; und vor der Haustüre saß ein Mädchen in zerlumpten Kleidern ungefähr in meinem Alter, das voll Verwunderung über das schöne Stück Spielzeug ausrief: Ach, Herr Gott, wie schön! – ich mochte etwa damals sechs bis sieben Jahre alt sein – der Ton des geduldigen Entbehrens, ungeachtet der höchsten Bewunderung, womit das zerlumpte Mädchen die Worte sagte: Ach, Herr Gott, wie schön! drang mir durch die Seele. – Das arme Mädchen musste alle diese Schönheiten so vor sich vorbeitragen sehen und durfte nicht einmal einen Gedanken daran haben, irgendein Stück davon zu besitzen. Es war von dem Genuss dieser köstlichen Dinge gleichsam auf immer ausgeschlossen und doch so nahe dabei – wie gern wäre ich zurückgegangen und hätte dem zerlumpten Mädchen das kostbare Spielzeug geschenkt, wenn es meine Base gelitten hätte! – So oft ich nachher daran dachte, empfand ich eine bittere Reue, dass ich es dem Mädchen nicht gleich auf der Stelle gegeben hatte. Eine solche Art von mitleidsvoller Wehmut war es auch, die ich empfand, da ich mich ausschließungsweise mit den Vorzügen in der Gunst des Pastor Marquard beehrt glaubte, wodurch meine Mitschüler, ohne dass sie es verdient hatten, so weit unter mich herabgesetzt wurden.

Grade diese Empfindung ist nachher wieder in meiner Seele erwacht, so oft er in der ersten von Virgils Eklogen an die Worte kam: nec invideo usw. Indem er sich in die Stelle des glücklichen Hirten versetzte, der ruhig im Schatten seines Baums sitzen kann, indes der andere sein Haus und Feld mit dem Rücken ansehen muß, war ihm bei dem nec invideo des letzern immer gerade so zumute, als da das zerlumpte Mädchen sagte: »Ach, Herr Gott, wie schön ist das!«

Ich habe hier notwendig in meinm Leben etwas nachholen und etwas vorweggreifen müssen, wenn ich zusammenstellen wollte, was nach meiner Absicht zusammengehört.

Hier nun das Bemerkenswerte des letzten Monats.

31. August 1860. Gestern Abend um 5 Uhr stiegen überlal mächtige Gewitterwolken auf, die den ganzen Horizont in Nacht einschließen zu wollen schienen und das Schlimmste befürchten ließen. Das Unwetter wütete vorzugswiese von Langenbrücken abwärts in den Amtsbezirken Wiesloch, Sinsheim, Neckarbischofsheim und Mosbach. Überall fielen Ströme von Regen nebst massenhaften Schloßen (= Hagel). Fensterscheiben wurden zerschlagen, Dächer abgedeckt, Schornsteine umgeworfen, zahllose Bäume entwurzelt oder abgeknickt, Obst, Tabak, Hopfen zerstört, Felder verschlammt und so weiter. In Sinsheim wurde eine von dem Felde nach Hause eilende Arbeiterin von den Wassermassen auf der Straße mit fortgerissen, wobei sie ihren Tod fand. In Neckarbischofsheim erlag ein 15jähriger junger Mensch den Strapazen des Heimeilens kurze Zeit, nachdem er zu Hause angekommen war, und in Neckarelz soll gleichfalls der Verlust von Menschenleben zu beklagen sein.

Über das am 31. August stattgefundene verheerende Ungewitter wurden noch folgende Einzelnheiten berichtet. In dem Amtsbezirk Philippsburg, namentlich in der Gemarkund Kronau, wurde die ganze Hopfen- und Tabaksernte zerstört. Ebenso litten die Waldungen furchtbar. Die im Kommerforst vorgekommenen Baumstürze betragen über 3000 Klafter (Klafter ist die Länge der ausgestreckten Arme eines Mannes, also rund 1,80 m. Ein Klafter Holz entspricht also 1,80 x 1,80 Raummeter Holz, also drei bis vier Ster). Hierauf zog sich der Orkan nach der Gegend zwischen Langenbrücken und eisloch, wo er in den Gemarkungen Malsch, Rettigheim, Mühlhausen, Rothenberg, Thairnbach, Horrenberg, Balzfeld und Dielheim fürchterlich hauste. In Rettigheim schlug der Blitz in eine Scheune, ohne jedoch zu zünden. Der Sturm wütete hierauf in den Amtsbezirken Sinsheim, Neckarbischofsheim, Mosbach und namentlich in den Gemarkungen Epfenbach, Helmstadt, Waibstadt, Bargen, Flinsbach, Neckarelz und Kälbertshausen in fast unbeschreiblicher Weise. Die herrlichsten Obstbäume, die schönsten Eichen- und Buchbäume liegen entwurzelt zur Erde, und alle Hoffnungen auf eine reiche Ernte sind zerstört. In vielen Orten sind die Dächer geradezu abgedeckt worden, Scheunen und Ställe zusammengestürzt, und die Straßen mit Fensterscheiben, Gebälk und Ziegeln bedeckt worden. Ein Teil der Telegraphenlinie ist zerstört, was alles leicht zu begreifen ist, da man Hagelkörner oder vielmehr Eisklumpen sah, die einen Durchmesser von 1 ¾ Zoll hatten (Zoll = ein Daumen breit, also 2 bis 3 cm, die Hagelkörner waren also 4,5 cm im Durchmesser, also etwas größer als Tischtennisbälle). Was jedoch am meisten zu beklagen ist, das ist der Verlust an Menschenleben. Vom Felde heimkehrende Landleute wurden fortgeschleudert und von herumfliegenden Ästen und von dem fürchterlichen Hagel verwundet. In Flinsbach wurde ein Lehrjunge erschlagen und ein Mann tödlich verwundet. Beim Einsturz einer Bauhütte und einer Schmiede an der im Bau begriffenen Eisenbahnbrücke bei Neckarelz blieb ein Arbeiter tot auf dem Platze; ein anderer brach das Bein. Ebendaselbst hatten sich viele Leute unter eine vor dem Dorfe gelegene Brechdarre geflüchtet (Gebäude zum Trocknen von Flachs). Diese stürzte zusammen und begrub unter ihren Trümmern eine verheiratete Frau und einen Zigeunerknaben. Eine bejahrte Frau flüchtete sich hinter einen Wagen und kam um, als dieser über den Haufen geworfen wurde. Die leichteren Verwundungen sind gar nicht aufzuzählen. So wütete der Orkan auf entsetzliche Weise, und es wäre höchst interessant den Lauf desselben auch in andere Länder zu verfolgen.

 

Mosbach, 6. September 1860. Einem Briefe aus Mosbach von zuverlässiger Hand entnehmen wir Folgendes über das Unglück vom 31. August: In der Stadt ist kein Haus verschont geblieben, namentlich sind die Fenster zertrümmert und Dächer stark beschädigt worden. Gärten und Felder sind ganz verwüstet, von den Bäumen an den Straßen bei Neckarelz sieht man nur noch Strozen und Stumpen. Die Bauhütte in der Nähe der Brücke in Neckarelz wurde in dem Augenblick vom Sturm eingeworfen, als Hr. Oberbaurat Keller und Ingenieur Kern dieselbe eben verlassen hatten. Beide Herren wurden aber durch den Sturm an Bäume geworfen und beschädigt, so dass sie das Bett hüten müssen. In Hochhausen und Obrigheitm ist der Schaden nicht bedeutend. Dagegen ist Klöbertshausen ganz verwüstet, der Kirchturm heruntergeworfen, viele Häuser abgedeckt; gleiche Verheerungen hört von Bargen, Helmstadt und Waisbstadt. Großer Mangel ist an  Ziegelnd, die Dächer stehen auf, Fürchte und Futter gehen zu Grunde und die Gebäude werden durchweicht. Man lässt Ziegel von Mannheim, Neckarsulm und Heilbronn holen, wo 1000 Stück mit 25 fl. ohne Fuhrlohn bezahlt werden müssen. Jammer und Elend ist überall groß und nirgends eine Hilfe sichtbar. Heite ist aus Auftrag der großh. Regierung Herr Ministerialrat Spohn in Mosbach eingetroffen, um Erhebungen über den durch den neulichen Hagelschlag in hiesiger Gegend verursachten Schaden zu machen. Der Großherzog hat 500 fl. zur Linderung der größten Not gespendet.

 

Mosbach, 18. Sept. Der durch das Hagelunwetter am 31. August verursachte Schaden wurde für das Amt Mosbach folgendermaßen abgeschätzt: Für den Ort Kälbertshausen auf 56, 254 fl, für den Ort Neckarelz auf 48,854 fl., den Ort Mosbach auf 69,500 fl, für den Ort Dallau auf 30,500 fl., für den Ort Neckarburken auf 11,160 fl., für den Ort Aglasterhausen auf 17,217 fl., für den Ort Daudenzell auf 13, 214 fl., für den Ort Asbach auf 15,555 fl., für den Ort Breitenbronn auf 6,250 fl, für den Ort Hochhausen auf 9,279 fl., zsammen 275, 783 fl. Hierunter ist jedoch der in den Weinbergen und Waldungen angerichtete Schaden nicht mit eingerechnet.

Karlsruhe, 7. September. Bekanntlich sind bei der Zweiten Kammer einige Petitionen um Erwirkung einer ausnahmslosen Amnestie für alle politisch Verurteilten eingelaufen. Der vor einigen Jahren ergangene Gnadenakt umfasst alle politisch Kompromittierten, welchen Freiheitsstrafen bis zu acht Jahren Zuchthaus zuerkannt waren. Inzwischen sind viele zu längerer Strafdauer Verurteilte amnestiert worden und in ihre Heimat zurückgekehrt.

11. September. Die Frage über die Einführung voller Gewerbefreiheit gegenüber einer freisinnigen Gewerbeordnung ist in neuester Zeit Gegenstand lebhafter Erörterung.

 

Lobenfeld/Mannheim, 11. September. Die Schwurgerichts-Sitzungen des III. Quartals für den Unterrheinkreis beginnen am 18. September und nehmen vier Tage in Anspruch. Es kommen sieben Fälle zur Verhandlung und Aburteilung, nämlich: 1) Dienstag, 18. Sept., Vormittags, die Anklagesache gegen Phillipp Stulz von Lobenfeld, wegen eines Verbrechens gegen die Sittlichkeit, 2) … 3) Mittwoch, 19. Sept., vormittags, Joh. Greulich von Mauer, wegen eines Verbrechens gegen die Sittlichkeit; …

 

Lobenfeld/Mannheim. 18. September. Heute Vormittag um halb 9 Uhr wurde die Schwurgerichtssitzung für das 3. Quartal eröffnet. Von den 36 Hauptgeschworenen waren 35 erschienen. Zur Verhandlung kam die Anklagesache gegen Philipp Stech von Lobenfeld wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit, und zwar aus diesem Grunde in geheimer Sitzung. Die Verteidigung beschränkte sich darauf die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten wegen Trunkenheit zu beanstanden. Da jedoch die in dieser Beziehung an die Geschworenen gerichtete Frage verneint wurde, so erkannte der Schwurgerichtshof nach Antrag der Staatsbehörde und verurteilte den Angeklagten zu Zuchthausstrafe von ein und ein halbes Jahr oder ein Jahr in Einzelhaft.

 

Mauer/Mannheim, 19. Sept. Heute Vormittag kam in geheimer Schwurgerichtsitzung die Anklagesache gegen Joh. Greulich von Mauer wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit zur Verhandlung, welcher der Gr. Hofgerichtsdirektor Nestler als Schwurgerichtspräsident leitete und wobei der Gr. Hofgerichtsrat Serger als Staatsanwalt und Herr Referendär Fürst als Verteidiger fungierten. Der Angeklagte wurde seines Leugnens ungeachtet von den Geschworenen schuldig befunden und in Rücksicht auf die Schwere des von ihm verübten Verbrechens zu 5 Jahren Zuchthaus oder 3 ½ Jahr in Einzelhaft verurteilt.

Wiesenbach. Mittwoch, den 26. September, Nachmittags 2 Uhr, wird auf der Ratsstube dahier die Winterschafweide für 250 Stück Schafe versteigert.

Sei gegrüßt von Deinem

Anton

 

(24) Liebe Luise, Heidelberg den 31. October 1860

Man sieht leicht, dass meine Eitelkeit durch die Umstände, welche sich jetzt vereinigten, um mir meine eigene Person wichtig zu machen, mehr als zu viel Nahrung erhielt. Es bedurfte wieder einer kleinen Demütigung für mich, und die blieb nicht aus. Ich schmeichelte mir nicht ohne Grund, unter allen, die bei dem Pastor Marquard konfirmiert wurden, der erste zu sein. Ich saß auch oben an und war gewiss, dass mir keiner diesen Platz streitig machen würde. Als auf einmal ein junger wohlgekleideter Mensch in meinem Alter und von feiner Erziehung die Lehrstunden des Pastor Marquard mit besuchte, der mich durch sein feines äußeres Betragen sowohl als durch die vorzügliche Achtung, womit ihm der Pastor Marquard begegnete, ganz in Dunkel setzte, und dem auch sogleich über mir der erste Platz angewiesen ward.

Mein süßer Traum, der erste unter meinen Mitschülern zu sein, war nun plötzlich verschwunden. Ich fühlte mich erniedrigt, herabgesetzt, mit den übrigen allen in eine Klasse geworfen. Ich erkundigte mich bei dem Bedienten des Pastor Marquard nach meinem fürchterlichen Nebenbuhler und erfuhr, dass er eines Amtmanns Sohn und bei dem Pastor Marquard in Pension sei, auch mit den übrigen zugleich konfirmiert werden würde. Der schwärzeste Neid nahm auf eine Zeitlang in meiner Seele Platz; der blaue Rock mit dem samtenen Kragen, den der Amtmannssohn trug, sein feines Betragen, seine hübsche Frisur schlug mich nieder und machte mich missvergnügt mit mir selbst; aber doch schärfte sich bald wieder das Gefühl bei mir, daß dies unrecht sei, und ich wurde nun noch missvergnügter über mein Missvergnügen. Ach, ich hätte nicht nötig gehabt, den armen Knaben zu beneiden, dessen Glückssonne bald ausgeschienen hatte. Binnen vierzehn Tagen kam die Nachricht, dass sein Vater wegen Untreue seines Dienstes entsetzt sei. Für den jungen Menschen konnte also auch die Pension nicht länger bezahlt werden, der Pastor Marquard schickte ihn seinen Anverwandten wieder, und ich behielt meinen ersten Platz. Ich konnte meine Freude wegen der Folgen, die dieser Vorfall für mich hatte, nicht unterdrücken, und doch machte ich mir selber Vorwürfe wegen meiner Freude – ich suchte mich zum Mitleid zu zwingen, weil ich es für recht hielt – und die Freude zu unterdrücken, weil ich sie für unrecht hielt; sie hatte aber demohngeachtet die Oberhand, und ich half mir denn am Ende damit, dass ich doch nicht wider das Schicksal könne, welches nun den jungen Menschen einmal habe unglücklich machen wollen. Hier ist die Frage: wenn das Schicksal des jungen Menschen sich plötzlich wieder geändert hätte, würde hätte ich ihn aus erster Bewegung freiwillig mit lächelnder teilnehmender Miene wieder über mir stehen lassen, oder hätte ich mich erst mit einer Art von Anstrengung in diese Empfindung versetzen müssen, weil ich sie für recht und edel gehalten hätte?

Alle Abend hatte ich nun eine lateinische Stunde bei dem Sohn des Pastor Marquard und kam wirklich so weit, dass ich binnen vier Wochen ziemlich den Kornelius Nepos exponieren lernte. Welche Wonne war mir das, wenn denn etwa der Garnisonküster dazu kam und fragte, was die beiden Herren Studenten machten – und als der Pastor Marquard damals gerade seine älteste Tochter an einen jungen Prediger verheiratete, der eines Sonntags nachmittags für ihn die Kinderlehre hielt und dieser auf Reisern immer aufmerksamer zu werden schien, je öfter er ihn antworten hörte: welch ein entzückender Augenblick für mich, da derselbe nun nach geendigtem Gottesdienst zum Pastor Marquard kam und der Schwiegersohn des Pastors mich nun mit der größten Achtung anredete und sagte, es sei ihm gleich in der Kirche, da ich ihm zuerst geantwortet, aufgefallen, ob das wohl der junge Mensch sein möchte, von dem ihm sein Schwiegervater so viel Gutes gesagt, und es freue ihn, dass er sich nicht geirrt habe.

In meinem Leben hatte ich keine solche Empfindung gehabt, als mir diese achtungsvolle Begegnung verursachte. – Da ich nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte und mich doch auch nicht gemein ausdrücken wollte, so bediente ich mich bei solchen Gelegenheiten der Büchersprache, die bei mir aus dem Telemach, der Bibel und dem Katechismus zusammengesetzt war, welches meinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab, indem ich z. B. bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte, ich habe den Trieb zum Studieren, der mich unaufhaltsam mit sich fortgerissen, nicht überwältigen können und wolle mich nun der Wohltaten, die man mir erzeige, auf alle Weise würdig zu machen und in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit mein Leben bis an sein Ende zu führen suchen.

Indes hatte mein Förderer Götten, an den ich misch schon vorher gewandt hatte, für mich ausgemacht, dass ich die Heidelberger Schule unentgeltlich besuchen könnte. – Allein der Pastor Marquard sagte, das dürfe nun nicht geschehen; ich solle, bis ich konfirmiert würde, noch von seinem Sohne unterrichtet werden, damit ich alsdann sogleich die höhere Schule in der Heidelberger Altstadt besuchen könne, wo der Direktor sich meiner annehmen wolle.

So schien nun an meinem Schicksale, um das sich vorher niemand bekümmert hatte, auf einmal alles teilzunehmen.

Mit welchen glänzenden Träumen und Aussichten in die Zukunft dies meine  Phantasie erfüllt hat, darf ich wohl nicht erst sagen. Insbesondre, da nun noch immer die geheimnisvollen Winke bei dem Garnisonküster und die Zurückhaltung des Pastor Marquard fortdauerte, womit er mir etwas Wichtiges zu verschweigen schien.

Endlich kam es denn heraus, dass eine Stiftung auf Empfehlung des Pastors Marquard sich meiner annehmen und mir monatlich den Unterhalt finanzieren wolle. Also war ich nun auf einmal allen meinen Besorgnissen wegen der Zukunft entrissen, das süße Traumbild eines sehnlich gewünschten, aber nie gehofften Glückes war, ehe ich es mir versehen, wirklich geworden, und ich konnte nun meinen angenehmsten Phantasien nachhängen, ohne zu fürchten, dass ich durch Mangel und Armut darin gestört werden würde.

Mein Herz ergoss sich wirklich in Dank gegen die Vorsehung. – Kein Abend ging hin, wo ich nicht die Stifter und den Pastor Marquard in mein Abendgebet mit eingeschlossen hätte – und oft vergoß ich im stillen Tränen der Freude und des Danks, wenn ich diese glückliche Wendung meines Schicksals überdachte.

Mein Vater hatte nun auch nichts weiter gegen mein Studieren einzuwenden, sobald er hörte, dass es ihm nichts kosten sollte. Überdem kam die Zeit nun heran, wo er seine kleine Bedienung an einem Ort sechs Meilen von Mannheim antreten musste, und ich konnte ihm also auf keine Weise mehr zur Last fallen. – Allein nun war die Frage, bei wem ich nach der Abreise meiner Eltern wohnen und essen sollte. Der Pastor Marquard schien nicht geneigt zu sein, mich ganz zu sich ins Haus zu nehmen. Es mußte also drauf gedacht werden, mich irgendwo bei ordentlichen Leuten unterzubringen. Und ein Hoboist, namens Filter, vom Regiment des Großherzogs erbot sich von freien Stücken dazu, mich unentgeltlich bei sich wohnen zu lassen. Ein Schuster, bei dem meine Eltern einmal im Hause gewohnt hatten, noch ein Hoboist, ein Hofmusikus, ein Garkoch und ein Seidensticker erboten sich jeder, mir wöchentlich einen Freitisch zu geben.

Dies verringerte meine Freude in etwas wieder, weil ichr glaubte, dass das, was die Stiftung für mich hergab, zu meinem Unterhalt zureichen würde, ohne dass ich an fremden Tischen mein Brot essen dürfte. Auch verringerte dies meine Freude nicht ohne Ursach, denn es setzte mich in der Folge oft in eine höchst peinliche und ängstliche Lage, so daß ich oft im eigentlichen Verstande mein Brot mit Tränen essen mußte. – Denn alles beeiferte sich zwar, auf die Weise mir Wohltaten zu erzeigen, aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht erworben zu haben, über meine Aufführung zu wachen und mir in Ansehung meines Betragens Rat zu erteilen, der dann immer ganz blindlings sollte angenommen werden, wenn er seine Wohltäter nicht erzürnen wollte. Nun war ich gerade von so vielen Leuten von ganz verschiedener Denkungsart abhängig, als mir Freitische gaben, wo jeder drohte, seine Hand von mir abzuziehen, sobald ich seinem Rat nicht folgte, der oft dem Rat eines andern Wohltäters geradezu widersprach. Dem einen trug ich mein Haar zu gut, dem andern zu schlecht frisiert, dem einen ging ich zu schlecht, dem andern, für einen Knaben, der von Wohltaten leben müsse, noch zu geputzt einher, – und dergleichen unzählige Demütigungen und Herabwürdigungen gab es mehr, denen ich durch den Genuss der Freitische ausgesetzt war, und denen gewiss ein jeder junger Mensch mehr oder weniger ausgesetzt ist, der das Unglück hat, auf Schulen durch Freitische seinen Unterhalt zu suchen und die Woche hindurch von einem zum andern herumessen zu müssen.

An dem guten Willen aber pflegt es nie zu fehlen, wenn Leute einem jungen Menschen zum Studieren förderlich sein zu können glauben – dies erweckt einen ganz besonderen Eifer – jeder denkt sich dunkel, wenn dieser Mann einmal auf der Kanzel steht, dann wird das auch mein Werk mit sein. Es entstand ein ordentlicher Wetteifer um mich, und jeder, auch der Ärmste, wollte nun auf einmal zum Wohltäter an mir werden, wie denn ein armer Schuster sich erbot, mir alle Sonntagabend einmal zu essen zu geben – dies alles wurde mit Freuden für mich angenommen und von meinen Eltern mit dem Hoboisten und dessen Frau überrechnet, wie glücklich ich nun sei, dass ich alle Tage in der Woche zu essen habe, und wie man nun von dem Gelde, das die Stiftung hergebe, für mich sparen könne.

 

Abschließend meine für dich gesammelten Nachrichten:

Osterburken. 1. October 1860. Heute nacht brach in einer Scheuer ein Brand aus, der so rasch um sich griff, dass er in kurzer Zeit 5 Scheunen zerstörte und 5 Wohnhäuser stark beschädigte. Erst gegen 4 Uhr Morgens konnte dem entfesselten Elemente Einhalt gethan werden.

Konstanz. 30. September 1860. In der am letzten Donnerstag dahier gehaltenen Schwurgerichtssitzung kam eines der schwersten Verbrechen zur Aburteilung. Es wurde nämlich der ledige 47 Jahre alte Taglöhner Johann Köhler von Mimmenhausen, welcher seine 84jährige blinde Tante in Ueberlingen aus Gewinnsucht auf eine grausame Weise mit einem Strick erdrosselte, nachdem zwei Versuche, dieselbe mittelst angezündeter Schwefelschnitten zu ersticken, fehlschlugen, zum Tode durch Enthauptung verurteilt. Kohler, der mehrere Jahre in neapolitanischen Diensten stand, hörte sein Urteil kalt und gleichgültig an und sprach den Wunsch aus, dass man ihn erschießen möchte, wenn er den Tod verdient habe, er wolle dabei selber „Feuer kommandieren.“ Da bei diesem erschwerten Morde die Begnadigung durch den Großherzog schwerlich zu erwarten ist, so hätten wir also in Bälde in hiesiger Stadt das traurige Schauspiel einer Hinrichtung zu gewärtigen.

 

Pforzheim, 3 October 1860. In den letzten Tagen sind hier einige Individuen wegen Falschmünzens verhaftet worden. Dieselben hatten versucht, französische Zehnfrankenstücke nachzumachen.

 

Karlsruhe, 11. October 1860. Unter den in Folge der jüngsten kriegerischen Ereignisse in Italien kriegsgefangen gewordenen Soldaten der nunmehr aufgelösten päpstlichen Armee befinden sich auch etwa 90 Badener. Es sind Männer von vorgerücktem Alter darunter, die zum Teil schon eine hübsche Reihe von Jahren in päpstlichen und neapolitanischen Kriegsdiensten gestanden. Dass unter ihnen manche sind, deren Rückkehr insbesondere von den betreffenden Gemeinde- und Bezirksbehörden nicht eben mit freudiger Erwartung entgegengesehen wird, lässt sich denken.

Heidelberg, 18. October 1860. Es sind nun 47 Jahre verflossen, seitdem sich die deutschen Völker unter dem russischen, österreichischen und preußischen Banner scharten, und in der denkwürdigen Schlacht von Leipzig dem französischen Adler auf viele Jahre die kühnen Schwingen lähmten. Heute früh ertönten zur Feier des 18. October alle Glocken der Stadt und von dem Schlosse schallte dazwischen der Freudendonner des Geschützes.

Heidelberg, 18. October 1860. So viel wir aus sicherer Quelle vernommen, soll die dritte Wagenklasse der Main-Neckar-Bahn nun auch mit Glasfenstern versehen werden. Wir glauben uns zu erinnern, dass dieses auch schon bei der badischen Bahn beschlossen ist, doch sehen wir bis jetzt der Ausführung noch entgegen.

Aus Baden, 16. October 1860. In dem Justizdepartement sieht man wichtigen Reformen entgegen. Die Öffentlichkeit und Mündlichkeit bei Strafsachen bei den Hofgerichten kann als die gerechteste Forderung der Neuzeit nicht länger mehr hinausgeschoben werden. Hierzu kommt denn noch eine Reform der gesetzlichen Vorschriften über das Unterpfandwesen, betreffs dessen längst auf große Mißstände aufmerksam gemacht wurde. Auch mit der Organisation der Justizbehörden wird wohl nicht länger gezögert werden können, da sich ein großes Missverhältnis bezüglich der Beschäftigung der Beamten in der untersten Instanz herausstellte, indem einige Amtsrichter wenig tägliche Arbeit haben, andere dagegen mit dem angestrengtesten Fleiß ihren Stoff nicht bewältigen können.

Heidelberg, 19. October 1860. Ein Schmutz auf der Straße, wie er jetzt besteht auf der östlichen Hauptstraße vom Kornmarkt bis zum Karlstor ist noch nie erlebt worden. Die Hauseigentümer vermögen die Säuberung der Straße nicht mehr zu erhalten, da fast täglich Kippwaen der Eisenbahnfuhren mit Ladungen von Gerölle und Steinen zusammenbrechen und der Inhalt alsdann auf der Straße liegen bleibt. Auch die Beschotterung der chaussierten Straße am Karlstor würde dem Übelstande teilweise abhelfen.

 

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